Cul=Tour oder Die Theorie des Phonetismus

Arno Schmidts gesammelte (Fernseh-)Interviews lassen den selbsternannten "Wortmetz" als Grimassenkünstler wiederauferstehen

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem Vorurteil nach war Arno Schmidt ein ähnlicher Eigenbrötler wie sein österreichischer Kollege Thomas Bernhard. Zurückgezogen auf dem platten niedersächsischen Land lebend, habe er mit niemandem sprechen wollen und keinerlei Störung beim Verfertigen seiner sperrigen Texte geduldet, heißt es stereotyp.

Doch so wie Bernhard seine - gar nicht einmal so seltenen - Interviews als Bühne zu nutzen verstand, um ein verblüffendes Talent für Wortspielereien zu demonstrieren und seine Verweigerungshaltung in einen performativen Akt höherer Blödelkunst umzumünzen, so wusste auch Schmidt, wie man sich vor Kameras und Mikrofonen selbst inszeniert.

Diesen spontanen Eindruck erweckt jedenfalls die Ausgabe der Fernseh- und Rundfunkinterviews beziehungsweise -lesungen Schmidts, die als zweiter Supplemente-Band der Bargfelder Werkausgabe bei Suhrkamp erschienen sind. Auf 12 CDs und einer DVD haben die Bargfelder Editoren alle verfügbaren Live-Interviews Schmidts zusammengestellt und in einem Begleitband transkribiert, der zudem auch noch Schmidts Antworten auf Umfragen beinhaltet.

Schon beim Betrachten der DVD, die drei Fernsehinterviews aus den 60er-Jahren präsentiert, stellen sich jedoch auch erste Zweifel ein: War dieser moderne Autor nun ein unglaublich guter Schauspieler, war er ein Komiker - oder war er einfach nur irre?

Da ist zum Beispiel das bizarre Gespräch, das Hans Schwab-Felisch (WDR) am 16. März 1962 mit Schmidt in dessen Bargfelder Haus über Karl May führte. Anlass war Schmidts Projekt "Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays". In dem Buch wird die teils denunziatorisch, teils satirisch anmutende These vertreten, der populäre Autor von "Winnetou" sei homosexuell gewesen. Nun also sitzt Schmidt in diesem DVD-Dokument plötzlich 'leibhaftig' vor uns und grimassiert während seiner schnarrenden Erläuterungen dermaßen, dass es einem Angst und Bange werden kann.

Doch nicht nur Schmidts Trademark, das virtuose Heben und Senken der Augenbraue, frappiert hier. Erinnert man sich daran, dass es in "Sitara" im Zuge der vulgär-psychoanalytischen Betrachtungen von Mays Werk unter anderem um derbe Häufungen von 'Phallussymbolen' wie "Kacktussen" (Schmidt) geht, so gerät man doch ins Schmunzeln, wenn man auf der Fensterbank im Bildhintergrund ein zierliches Exemplar eben jener stacheligen Pflanzenspezies im Blumentopf - nun ja - 'stehen' sieht.

War das Absicht? Oder doch unfreiwillige Komik? Ähnliche Fragen wirft das Bargfelder Interview auf, das Jürgen Möller bereits ein Jahr zuvor für den NDR zu Schmidts zweispaltig geschriebenem Roman "Kaff auch Mare Crisium" (1960) führte. Während dieses Buch noch als klassisches Beispiel für jene zunächst abstrakt anmutenden Schmidt-Texte gelten kann, deren Vorlesung dem Zuhörer überraschend anschauliche Sprachbilder offenbaren kann, so darf man sich bei Möllers Gespräch vor allem darüber amüsieren, dass darin Schmidts 'theoretische' Erläuterungen seiner lautmalerischen "Verschreibungstechnik" zur bloßen Posse geraten.

Man glaubt, Zeuge einer albernen Nonsens-Show zu sein, wenn man Schmidt dabei vor handbeschrifteten Schautafeln herumfuchteln sieht. Der Autor versucht zu demonstrieren, dass es sich bei seinen literarischen Wortschöpfungen zwar um keine Rechtschreibung handele - "aber auch um keine Unrechtschreibung, der Phonetismus ist ja nie so weit getrieben, daß man die Worte nicht mehr erkennt".

Schmidt deutet dazu abwechselnd auf die Worte "Kultur", "Kultuhr" beziehungsweise "Kull=Tour" und kommentiert, entweder runzele der Leser hier die Stirn "oder sagt, das ist ein Druckfehler, er kann auch sagen, der Autor ist verrückt, aber ein Mißtrauen gegenüber der Kultur als solcher bleibt überhaupt". Möller wirft an der Stelle geistesgegenwärtig ein: "Na ja und das wäre dann sozusagen die Adornosche Kulturindustrie".

Dass Schmidt, der sich wohl nie ernsthaft mit Theodor W. Adornos Schriften auseinandergesetzt hat, dieser Idee sofort und ohne Umschweife zustimmt, darf als eine der erstaunlichsten Volten bezeichnet werden, die sich der Freund plattester Anal-Kalauer je geleistet hat. Und doch: "Cul=Tour" heißt es, mit einem Umweg über das Französische Wort für "Hintern", in "Zettel's Traum" (1970). So wird dort bei Schmidt - Jahre nach dem zitierten NDR-Interview - aus der Kultur tatsächlich noch eine "Arsch-Tour". Ist das Adorno? Vielleicht: "Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll", kann man in dessen "Negativer Dialektik" nachlesen.

Zurück bleibt beim Hören der CDs allerdings der Verdacht, dass Schmidts "Etym-Theorie", die er in der Aufnahme "Vorläufiges zu Zettels Traum" (1969) selbstgewiss erläutert, zumindest nicht so funktionieren kann, wie es sich ihr Autor seinerzeit ernsthaft vorgestellt zu haben scheint. Oder war auch das alles nur ein großer Bluff?

Schmidts Gespräche lassen jedenfalls erahnen, wie sehr literarische Werke ein Eigenleben entwickeln, das gegenüber den versuchten Sinngebungen und Rezeptionssteuerungen des Autors immun bleibt. Der teils oberlehrerhaft, teils hochironisch wirkende Performer Schmidt, der uns in seinen Interviews und Fernsehauftritten begegnet, irritiert heute vor allem deshalb so sehr, weil er Brocken aus seinem Werk wiederholt, als habe er sie selbst immer noch nicht ganz verstanden. Oder als ob er sie persiflieren wolle - je nachdem.

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien in Theater Heute 2/2006.


Titelbild

Susanne Fischer (Hg.): Arno Schmidt. Lesungen, Interviews, Umfragen. Bargfelder Ausgabe mit 9 CDs und 1 DVD.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
200 Seiten, 128,00 EUR.
ISBN-10: 3518802151

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