Bollywood Goes Literature

Vikram Chandras epische Räuberpistole "Bombay Paradise" mäandert zwischen Peinlichkeit und Langeweile

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Indien ist einfach ,in': War das Land am Ganges ursprünglich vor allem für seine spirituellen Verheißungen bekannt, so wird zunehmend auch die indische Alltagskultur chic. Selbst kommerziell orientierte Privatsender haben längst entdeckt, dass sich nicht nur wohltuend viele Werbeblöcke in jedem der dreieinhalbstündigen Bollywood-Epen unterbringen lassen, sondern dass ihnen darüber hinaus Tanz und Gesang der immergleichen Schauspieler auch traumhafte Einschaltquoten bescheren; dass sich die Handlung dieser Filme zumeist en detail auf dem Rücken einer Briefmarke zusammenfassen ließe, scheint das ob des vielen Exotismus begeisterte Publikum kaum zu stören.

Indische Literatur hingegen bestand in den Augen der meisten europäischen Leser bislang fast ausschließlich aus den Werken Salman Rushdies; doch mit Vikram Chandra tauchte unlängst ein neuer Star am Himmel post-kolonialer Literatur auf. Mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, werden seine Romane und Kurzgeschichten selbst von Rushdie bewundert: "Neidisch" sei er, so zitiert der Klappentext stolz den intellektuellen Übervater der indischen Literatur, auf das Talent Chandras, "Man könnte sich fast ärgern, wenn jemand so gut ist." Nach so vielen Vorschusslorbeeren sind die Erwartungen, die sich an "Bombay Paradise" richten, naturgemäß hoch.

Doch bereits zu Beginn greift der viel gelobte Autor tief - sehr tief - in die Klischeekiste: Der böse Ober-Gangster Ganesh Gaitonde befindet sich mit seinen nicht minder bösen und ausgeprägt potenten Unter-Gangstern auf seiner Hightech-Yacht, wo sie, außer mit dem Abwickeln zwielichtiger Geschäfte, ihre Zeit damit verbringen, sich von jungen Frauen ihre "Laudas" stimulieren zu lassen. - Für all jene, deren Sprachkenntnisse sich eventuell nicht auf Hindi erstrecken mögen, hat der Verlag dem Roman dankenswerter Weise ein Glossar sowohl der Namen der Akteure als auch der wichtigsten Begriffe beigefügt; da "Lauda" jedoch auf fast jeder zweiten Seite in mehr als eindeutigen Kontexten erwähnt wird, erübrig sich hier das Nachschlagen. - Zugeführt werden den bösen Buben die leichten Mädchen von Ganeshs Vertrauter, der couragierten Zuhälterin Jojo Mascarenas.

Neben seiner neuesten Favoritin Zoya fühlt sich Ganesh vor allem Guru-jii, seinem spirituellen Mentor, verbunden. Diesen trifft er bei einem Yagna (hier empfiehlt sich allen Nicht-Ashram-Erfahrenen das Nachschlagen im Glossar), das Chandra so ausführlich beschreibt, dass geneigte Leserinnen und Leser nach der Lektüre sicherlich in der Lage sein werden, das Ritual an lauen Sommerabenden im heimischen Garten nachzuspielen. Außerdem stellt sich bei dieser Gelegenheit heraus, dass Ganesh nicht schon immer böse war - er hatte einfach eine schwere Kindheit: Sein Vater, ein offenbar etwas tumber Bramahne, erhielt erst auf Fürsprache eines wohlhabenden Verwandten eine Stellung in einem Tempel, von der er seine Familie ernähren konnte.

Doch seine Gattin, eine indische Variante der ewig nörgelnden Lady Macbeth, empfing schon bald den vorgeblich fürsorglichen Verwandten zu trauten Schäferstündchen. Dies musste schließlich selbst dem tumbsten Brahmanen zu viel werden, und obwohl er dadurch auf einen Schlag so viel schlechtes Karma auf sich lud, dass seine Wiedergeburt als Backstein unumgänglich wurde, griff Ganeshs Vater kurzerhand zu einem ebensolchen und schlug dem ehebrecherischen Nebenbuhler den Kopf ein, bevor er selbst spurlos verschwand.

Die treulose Mutter wiederum verdiente fortan ihren Lebensunterhalt, indem sie anderen Männern ihre Liebesdienste feilbot. Viel Zeit, so wird spätestens hier deutlich, hat Chandra auf die Ausgestaltung der Geschlechterrollen seiner Charaktere wohl nicht verwendet, und er ist sicherlich ein guter Kandidat, um bald (völlig zurecht) zum bevorzugten Objekt feministischer Kritik zu werden: Chandras Frauengestalten sind entweder treusorgende Mütter oder eiskalt-berechnende Sexbomben, und die Männer sind (auch verbal) ganze Kerle, die sich mit Vorliebe als "Bhenchod" beschimpfen, einem "vulgären Ausdruck", der, so weiß das Glossar, "Schwesternficker" bedeutet und den man bei seinem nächsten Indienaufenthalt auf keinen Fall mit dem ebenfalls beliebten "Maderchod" (= "Mutterficker") verwechseln sollte.

Doch ganz so simpel sind Chandras Figuren denn doch nicht gestrickt: In einem Versuch, seinem Schurken so etwas wie psychologischen Tiefgang zu verleihen, lässt ihn der Autor um seine kostbare Männlichkeit bangen. Obgleich der Film, den Ganesh mit seiner Freundin als Hauptdarstellerin produzierte, zum Flop wird (der Gangster lässt einem besonders renitenten Kritiker übrigens die Beine brechen), steigt Zoya dennoch zum Star auf. Angesichts einer derart erfolgreichen Frau stürzt Ganesh in eine libidinöse Krise und vermeint, dass sein "Lauda" zu einem ,Laudachen' verkümmere. Hier nähert sich der Roman bewundernswert zielsicher dem absoluten Höhepunkt der Peinlichkeit: Um sein Genital besorgt, informiert sich der Schurke - via Internet natürlich - über die neuesten Methoden der Lauda-, pardon, Penisverlängerung, und Chandra beschreibt mit gewohnt viel Liebe zum Detail die Methode, mit der des Bösen bestes Stück wieder zu voller Pracht und Herrlichkeit gebracht werden soll - scheinbar mit durchaus befriedigendem Erfolg.

Natürlich hat der Schurke auch einen guten Gegenspieler: Inspektor Sartaj Singh ist eine Mischung aus Jerry Cotton und Philip Marlowe und zeichnet sich hauptsächlich dadurch aus, dass er zwar korrupt ist, aber eben nicht ganz so korrupt wie seine Kollegen. Ansonsten ist auch er - wie sollte es anders sein - ein Frauenheld, der allerdings weniger Potenzprobleme hat als Ganesh.

Nachdem plötzlich einige von Ganeshs Männern von Unbekannten erschossen werden, lässt auch Ganesh einige Mitglieder feindlicher Organisationen erschießen, und im Handumdrehen hat Chandra Dutzende von Seiten gefüllt, ohne den Plot nennenswert voran gebracht zu haben. Doch langsam aber sicher wird das Unfassbare fassbar: Ganesh ist eigentlich nur die Marionette Guru-jiis, dessen Gutmensch-Habitus sich als perfide Show entpuppt. Anstatt lediglich ,normale' Waffen für seinen spirituellen Mentor ins Land geschmuggelt zu haben, hat der ahnungslose Ganesh seine Mitarbeiter alles befördern lassen, was der größenwahnsinnige Guru für den Bau eines atomaren Sprengsatzes benötigt. Diesen plant der skrupellose Sektenführer mitten in Bombay - das eigentlich mittlerweile offiziell Mumbai heißt - zu zünden, und die Tat so aussehen zu lassen, als sei sie von muslimischen Terroristen verübt worden. Den daraus resultierenden Krieg sieht der spirituell Verwirrte als apokalyptischen Auftakt zu einem neuen Goldenen Zeitalter.

Als es Ganesh endlich dämmert, wem er sich da mit Leib und Seele verschrieben hat, lässt er einen Atombunker bauen und macht sich auf, den verschwundenen Guru zu finden, nach dessen Nähe er sich trotz allem auf masochistische Weise sehnt. In bester James-Bond-Manier ziehen Ganesh und seine Männer los, und nachdem ersterer endlich aus dem Munde des einstmals Verehrten Details über dessen schurkischen Plan gehört hat, verschanzt er sich in seinem nagelneuen Atombunker, in den er auch - unter Gewaltanwendung - Jojo bringen lässt, um sie vor dem sicheren Atomtod zu bewahren.

Doch Undank ist ja bekanntlich der Welten Lohn und die Dame zeigt sich alles andere als erfreut über die Aussicht, bis ans Ende ihrer Tage in einem Bunker zu hausen. Also greift sie zur einzigen Waffe, die Chandra ihr als Frau zugesteht, und erzählt dem schockierten Ganesh die grausige Wahrheit über sein Liebesglück mit Zoya: Nicht nur war die von ihm mit Hingabe praktizierte Genitalmassage völlig wirkungslos - sein "Lauda" war durch eine heimlich verabreichte Viagra Pille rejuveniert worden -, nein, schlimmer noch, Zoya war, entgegen ihrer Beteuerungen und ,untrüglicher' post-koitaler Zeichen gar keine Jungfrau mehr.

Angesichts dieses Übermaßes an weiblicher Perfidität verblasst Ganeshs Angst vor dem Strahlentod, und er ist dermaßen in seiner männlichen Ehre getroffen, dass er die durchtriebene Lügnerin beherzt erschießt. Anschließend ruft er seinen alten Widersacher Sartaj Singh an und bestellt ihn zu seinem Bunker, um mit ihm über Guru-jiis Plan zu sprechen. Um sich jedoch einer möglichen Verhaftung durch Singh zu entziehen, erschießt sich schließlich auch Ganesh.

Insgesamt darf Ganesh im Verlauf des Romans eine Einsicht gewinnen, die seinem Erzeuger leider nicht ganz so deutlich gewesen sein dürfte: Länge ist nicht immer alles! Statt Quantität wäre mehr Qualität durchaus wünschenswert gewesen, und obgleich es mittlerweile nicht mehr politisch korrekt ist, von "Trivialliteratur" zu sprechen, so erscheint Chandras Roman über weite Strecken genau dies zu sein. Scherenschnittartige Figuren tapsen durch eine vorhersagbare Handlung, peinliche Sexszenen wechseln sich ab mit Passagen, in denen mittels stereotyper Adjektive versucht wird, ein Indienbild zu zeichnen, das letztlich nur als wenig prominenter Hintergrund für eine Gangster-Geschichte dient, die wie ein viel zu lang geratenes Groschenheft oder das Drehbuch eines B-Movies wirkt. Dass sich Rushdie wünscht, so schreiben zu können, ist zumindest überraschend, mag aber daran liegen, dass er den Roman wahrscheinlich als große, auto-reflexive, post-moderne Genre-Parodie lesen würde.

Der Kauf und die Lektüre von Vikram Chandras "Bombay Paradise" sind vor allem eins: ungeheure Verschwendung. Nicht so sehr des Geldes wegen, das man für das Buch anlegen muss, als vielmehr wegen der Zeit, die man für das Lesen des langatmigen Romans benötigt - diese sollte man lieber sinnvoller nutzen.


Titelbild

Vikram Chandra: Bombay Paradise. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Barbara Heller und Kathrin Razum.
Aufbau Verlag, Berlin 2006.
576 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3351030924

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