Leichen pflastern seinen Weg

1885 ließ Lou Andreas-Salomé Protagonisten ihres Erstlings um Gott kämpfen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So ganz vom Radarschirm der Geisteswissenschaften verschwunden war Lou Andreas-Salomé nie. Nach dem Tod der 1937 verstorbenen Autorin sorgte ihr Altersvertrauter und Nachlassverwalter Ernst Pfeiffer unter anderem mit der 1951 erfolgten Publikation ihres "Lebensrückblicks" dafür, dass sie im Bewusstsein von Kultur- und LiteraturwissenschaftlerInnen sowie in Kreisen der Psychoanalyse präsent blieb. Im Laufe der Jahre kamen weitere literarische und psychoanalytische Texte aus ihrer Feder hinzu, und als verschiedene große deutsche Verlage im Zuge der Frauenbewegung in den 1970er und 1980er Jahren eigene Reihen mit so genannter Frauenliteratur ins Leben riefen, waren unter den publizierten Titeln selbstverständlich auch einige Romane und Erzählungen der eher dem Antifeminismus als den frauenrechtlerischen Bestrebungen ihrer Zeit zuneigenden Autorin, wie etwa "Fenitschka", "Das Haus" oder "Ma". Anfang der 1990er Jahre erschienen mit "Die Erotik" und "Das 'zweideutige' Lächeln der Erotik" in kurzer Folge zwei Sammelbände psychoanalytischen und sexualwissenschaftlichen Inhalts. Auch ihre erstmals 1894 erschienene Entzauberung Friedrich Nietzsches ( siehe literaturkritik.de 9/2000) wurde in den 1980er Jahren und noch einmal zum Millenniumswechsel neu aufgelegt. Darüber hinaus wurden diverse ihrer Briefwechsel ediert, etwa mit Rainer Maria Rilke, Sigmund Freud und dessen Tochter Anna. (siehe literaturkritik.de 12/2001) Doch ist sie bis heute auf dem Buchmarkt nicht etwa nur mit ihren eigenen Publikationen vertreten, sondern ihrer Autobiografie folgten in den vergangenen Jahrzehnten mehrere Lebensbeschreibungen, darunter zuletzt eine Bildbiografie von Ursula Welsch und Dorothee Pfeiffer. (siehe literaturkritik.de 12/2006) Das literaturwissenschaftliche Interesse an der Autorin schlägt sich denn auch zu Beginn dieses Jahrhunderts noch immer in neuen Aufsätzen und Monografien nieder, etwa von Chantal Gahlinger, Christine Kanz oder Cornelia Pechota Vuilleumier. Einem breiteren Lesepublikum ist sie heute hingegen weithin unbekannt.

Lou Andreas-Salomés Erstlingsroman "Im Kampf um Gott" erschien 1885 unter dem Pseudonym Henri Lou. Nun wurde auch dieser Roman - unter der Ägide von Hans-Rüdiger Schwab - neu herausgegeben. In einem von einem Freunde posthum aufgefunden Manuskript lässt die junge Autorin einen alten Einsiedler sein Leben erzählen. Vom kindlich-religiösen Schwärmer entwickelt er sich zum atheistischen Zweifler und "Freigeist", um seinen Lebensweg schlussendlich als "Wandel von Gott zu Gott" zu resümieren. Dieser Weg des durchaus nicht sonderlich sympathischen Ich-Erzählers, eines Menschen bar jeder Empathie und Selbsterkenntnis, ist mit Leichen geradezu gepflastert. Vornehmlich mit schönen Frauenleichen, wie man spätestens seit Elisabeth Bronfen ohne große Überraschung zur Kenntnis nimmt. Zwei werden vom Protagonisten in den Suizid getrieben, die dritte stirbt bei der Geburt der zweiten. Jede der drei Frauen repräsentiert ein mögliches weibliches Lebensmodell des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sie alle bleiben dabei jedoch immer am Mann (in Gestalt des Ich-Erzählers) orientiert. Und da nach einem alten, von Reinhard Brandt aufgedeckten (vornehmlich europäischen) Ordnungsschema drei Dinge erst dann vollständig und somit gut sind, wenn ein außenstehendes Viertes hinzutritt, gibt es auch hier einen vierten Toten, einen männlichen, den Bruder des Protagonisten. Andreas-Salomé verfolgt dieses Ordnungsschema allerdings nicht konsequent. Dazu mangelt es ihrer Konstruktion an Abgeschlossenheit und Vollständigkeit. So treten zu den Vieren etwa noch Vater und Mutter des Ich-Erzählers als RepräsentantInnen überkommener Geschlechterklischees hinzu.

Andreas-Salomés Roman lebt weniger von der Handlung als von den verhandelten Zeit- und Menschheitsthemen, namentlich der Liebe und der Sexualität sowie der Religion und der Philosophie. So wird der Geschlechterkampf nicht weniger ausgefochten als der um Gott. Doch da es bei all dem recht papieren zugeht, kann man nicht wirklich davon sprechen, dass es der Autorin gelingt, ihrem Werk Leben einzuhauchen. Zu diesem Manko treten nicht eben geringe sprachliche und stilistische Schwächen dieses Erstlingswerks einer gerade mal 24-Jährigen hinzu, die versucht, einem alten Mann eine Stimme zu geben. So kann man Andreas-Salomé kaum widersprechen, wenn sie ihr Debüt später als "elendes Machwerk" abtat, das sie "zusammengeschmiert" habe, "wie sonst nie was".

Dennoch ist es dem Verlag zu danken, dieses Buch neu aufgelegt und somit über ein Jahrhundert nach seinem ersten Erscheinen wieder zugänglich gemacht zu haben. Weniger vielleicht um des Romans selbst willen, als mehr noch aus eben dem Grund, aus dem der Herausgeber das Desiderat einer Gesamtausgabe der Autorin beklagt. Diese nämlich gehörte zu den originellsten Geistern ihrer Zeit, trat nicht nur als Schriftstellerin etlicher Romane, Novellen und Erzählungen hervor, sondern auch als Sexualtheoretikerin und nicht zuletzt als eine der Mütter der Psychoanalyse. Kurz: sie war eine bedeutende Persönlichkeit und durchaus nicht nur die Muse bekannter Männer wie Nietzsche, Rilke und Freud, zu der sie immer noch und immer wieder herabgewürdigt wird.

Und dann rechtfertigt die Publikation dieses Romans noch etwas: Einiges von Lou Andreas-Salomés späterem psychoanalytischen Wissen lässt die psychologische Zeichnung der Figuren ihres frühen Romans bereits erahnen.

Wäre der Roman aber auch noch so misslungen - was er durchaus nicht in toto ist - so gäbe es immer noch eine kurze Stelle, einen Satz, der alleine ihn schon lesenswert machen würde. In ihm sitzt ein "kleine[r] Gottesmörder" neben einem "großen Dieb", mit dem er - "schaudernd" zwar, aber doch so gerne - von Gleich zu Gleich verkehren würde. Ist das nicht eine ganz wunderbare Nietzsche-Satire?


Titelbild

Lou Andreas-Salomé: Im Kampf um Gott. Roman.
Herausgegeben von Hans R. Schwab.
dtv Verlag, München 2007.
298 Seiten, 11,50 EUR.
ISBN-10: 3423135298

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