Denn sie wissen, was sie sehen
Über einen Band zu Mechanismen und Sprache des Neoliberalismus
Von Lennart Laberenz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn einer größeren Reportage vor Weihnachten kümmerte sich die "Zeit" um "Die Welt der Bosse". Der Manager als soziales Wesen, über die ganze Welt getrieben vom eigenen Machtgefallen und von rabiaten Fondsmanagern, ohne Freizeit und mit wenig Schlaf. Parallel dazu lesen wir von Ausschweifungen VW-Oberen, die ihre Geschäftsreisen gerne im Bordell ausklingen lassen; aus den USA klingen noch die schwer nachzuweisenden Betrügereien im Fall Enron nach. Insgesamt stehen mehr Manager im Zwielicht oder vor Gericht denn je - und doch scheint das der Arroganz der Macht wenig Abbruch zu tun. Die begleitende Berichterstattung hüllt sich bisweilen in ein merkwürdiges Gewand aus Wehmut: Früher waren die Dinge einfacher, wo ist nur der rheinische Kapitalismus hin, wo nur die Moral?
Bemerkenswert bei all den oft gut geschriebenen Reportagen und Lesestücken ist der Mangel an analytischer Stringenz. Die moralischen Begriffe einer längst vergangenen Zeit werden gegen den neoliberal erweiterten Kapitalismus gerichtet, man spürt förmlich die entrüstete Enttäuschung älterer Männer, die auf eine ihnen fremd wirkende Welt blicken. Die Demokratie scheint in Gefahr, händeringend wird die Lösung gesucht - bei politischen Parteien, nicht aber im System, das sie verdichten.
Offenbar wird, dass diese fremde Welt nur eine konsequente Weiterentwicklung des Alten ist. Wir entdecken das radikale Marktparadigma an der Stelle, wo viele ein vormals scheinbar gutmütiges Herz sahen, ein Herz, in dem irgendwo auch Platz für Arbeitnehmer, Bildung, Wohlfahrtstaat und sozialen Fortschritt war. So zumindest will es der verklärende Rückblick.
Um dieser Legende nicht immer nur hochspezialisierte Analysen entgegenzusetzen, haben sich der Hamburger Verlag VSA und die IG Metall entschlossen ein, "ABC zum Neoliberalismus" herauszugeben. Unter dem etwas infantilen Titel erarbeiten eine Fülle von zumeist akademisch abgesicherten Autoren eine mehrfache Gratwanderung. Einerseits wollen die Begriffserklärungen immer genau so differenziert funktionieren, um nicht ins Triviale abzurutschen, gleichzeitig sollen sie immer genau so verständlich sein, um nicht jene teilweise ermüdende Sprache der Spezialdiskussionen erneut wiederzukäuen. Allerdings versuchen die Autoren nicht, dem Anspruch eines Handwörterbuches des Neoliberalismus zu genügen - derart ausgereift sind weder der theoretische Unterbau noch die Praxis des mit der Elle des Finanzkapitals entwickelten Systems. Ein Spagat, das dem Werk insgesamt gut gelingt.
Inhaltlich will das Buch den in der politischen Rhetorik inflationär und blass gewordenen Begriff des Neoliberalen organisieren. Dabei werden einerseits spezifische Termini des Neoliberalismus, wie etwa "Shareholder Value", "Privatisierung", oder "Public Private Partership" präzise dargestellt, oder Umdeutungen von Begriffen wie "Freiheit", "Gerechtigkeit", oder "Staat" expliziert. Hinzu gesellen sich Kurzporträts von einigen Vordenkern, sowie Institutionen und Einrichtungen. Die Beiträge entdecken, dass Krisenerscheinungen der Demokratie mit den Verwerfungen der ökonomischen Basis zusammenhängen. Damit erklärt sich auch der Titel - den Autoren schwebt kein enges Konzept im Sinne der Begriffsgeschichte und -analyse vor, vielmehr versuchen die einzelnen, zwischen zwei und drei Druckseiten langen Aufsätze, den Komplex des Neoliberalismus im Spiegel von Begriffen zu erklären, die sich entweder zumeist unhinterfragt in der Alltagssprache festgesetzt haben, oder nun eine neue Klangfarbe bekommen haben.
Darüber aber gerät der Begriffsinhalt des Neoliberalismus zum Teil selbst etwas unscharf. Einerseits handelt es sich um eine politische Philosophie sowie um eine Wirtschaftsstrategie, andererseits stehen technische Termini der Politik und Institutionen in einem Kräftefeld des Systems. Um diesen Unterschied wissen einige der Beitragenden genau: Alex Demirovic etwa weist mit dem Begriff der Gouvernementalität auf eines der Schlüsselprinzipien beim Übergang institutioneller Prinzipien und Interessen in die persönliche Lebensführung hin, da er den Modus der Subjektivierung in den Blick rückt. Hier gerät Neoliberalismus zu einem Prozess, der sich bereits in unsere Lebensweise eingeschlichen hat. Bei anderen Autoren verrutscht der Neoliberalismus gelegentlich zur einfachen Kritik an einzelnen Regierungsmaßnahmen.
Die Umwandlung des Gerechtigkeitsbegriffs in Chancengleichheit ist zunächst ein erheblich dünnerer politischer Ansatz staatlicher Intervention, der Staat zieht sich zurück und lässt den Bürger mit dem Glück oder Pech seiner sozialen Abstammung allein. Dafür allerdings Belege in Bonmots des bundesdeutschen Finanzministers zu suchen, wirkt etwas hausgemacht. Hier arbeiten sich Gewerkschafter und linke Sozialdemokraten (auch) am Albtraum der großen Koalition ab, worunter die Analyse des Neoliberalen eher leidet - schließlich findet der neoliberal weiterentwickelte Kapitalismus nicht nur auf den Bühnen der deutschen Rentenpolitik statt.
Erfreulich, dass diese Stellen rar sind und das "Abc zum Neoliberalismus" gleichsam als Begleiter durch die politische Rhetorik der Gegenwart und der theoretischen Auseinandersetzungen des Kapitalismus gleichermaßen funktioniert. Dem VSA-Verlag ist damit ein wichtiges Buch, allerdings in einem grässlichen Einband, gelungen.