Nur Querulanten sagen ich
Hubert Fichtes erste Erzählung "St. Pauli-Geschichte" bringt literaturkritische Grundlagen ins Wanken
Von Jule D. Körber
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIch habe gelernt, dass es in Rezensionen kein erzählendes Ich geben sollte. Subjektivität, persönliche Empfindungen, das schreiben nur die Amazon-Pseudo-Kritiker in ihre Rezensionen. Als Journalistin dagegen sollte ich Bücher danach bewerten, wie kohärent sie sind: Wurde für den Inhalt die richtige Sprache gewählt? Hat der Autor jenes Ziel erreicht, das er mit dem Buch erreichen wollte? Ist das Buch immanent logisch? Oder verhebt der Autor sich am eigenen Erzählvorhaben?
Doch wenn ich als geborene Hamburgerin die "St. Pauli-Geschichte" von Hubert Fichte bespreche, verliert all das seine Gültigkeit. Dann sind da nur noch der junge Hubert Fichte, das St. Pauli der 50er Jahre und ich.
Da schreibe ich nichts von der Critique génétique, untersuche nicht Fichtes Originalhandschriften, die neben dem Drucktext abgebildet werden - auch, wenn der Transit Buchverlag unbedingt dafür gelobt werden sollte, mit welchem ästhetischen Gespür er wieder einmal einen Band mit überzeugender Gesamtästhetik zusammengestellt hat.
Nein, ich erwähne auch nicht, wie interessant es ist, dass Fichte selbst die "St. Pauli-Geschichte" nicht von anderen außer seinem engen Vertrauten Hans-Herman Rief gelesen wissen wollte, als er ihm die Erzählung - achtzehn handbeschriebene Seiten - zum Geburtstag schenkte. Auch, dass er ihm schreibt, dass es Abschriften seien, die er ihm schicken würde. Und dass darin trotzdem noch viele Streichungen zu finden sind. Ich schreibe nichts darüber, was das alles über den jungen Hubert Fichte aussagt und in wieweit ich glaube, all das auch in den Fotos Fichtes wiederzufinden, die sich in dem Band finden.
Hubert Fichte ist 20 Jahre alt, als er die "St. Pauli-Geschichte" seinem Vertrauten und rund dreißig Jahre älteren Mentor Hans-Herman Rief - damals Archivar der Worpsweder Künstlerkolonie - zusendet. Es ist die erste ernstzunehmende Erzählung Fichtes - und unmöglich zu veröffentlichen in der 50ern, denn sie erzählt von der Begegnung zweier Homosexueller zu einer Zeit, als Homosexualität noch als sittenwidrig galt und mit Gefängnis bestraft wurde.
Ich, die 23-jährige Kreativ-Schreiben-Studentin, stehe beim Lesen der "St. Pauli-Geschichte" mit dem 20-jährigen Autodidakten Hubert Fichte auf der Davidstraße, rieche mit ihm die Elbe, kehre mit ihm dem Hafen den Rücken zu, gehe mit ihm Richtung Pinnasberg, in unseren Augenwinkeln das Lichterzucken der Reeperbahn, "eine gleißende, bobongetönte Fuge".
Als Hubert Fichte starb, war ich 3 Jahre alt. Ich habe gelernt, den Autoren nicht mit dem erzählenden Ich gleichzusetzen. Aber Hubert nimmt mich als unsichtbare Begleitung mit in die Lorelei - ein in den 50ern bekanntes homosexuelles Lokal in der Detlev-Bremer-Straße, eine Nebenstraße der Reeperbahn. Wir begegnen dem farbigen Arbeiter Hans, und Hubert ist so fasziniert, dass er ins stotternde Schreiben gerät. " [...] Der da sitzt ... Der Kopf ... Phantastisch schwul. ... Der Kerl wird nur ein entsetzlich gebärfreudiges Becken haben. ... Das ist doch gleich, bei dem Kopf! ... Ganz feines Haar, gekräuselt auch noch ... schwarze Haare! ... und die Augenbrauen ... so gewölbt ... Die Ohren. Klein. Kleiner geht es nicht. ... Die Nase! Die Lippen! Riesig und weich! [...]" Außerhalb des Lokals spricht Hans Hubert an, " [...] Machen wir kein Theater voreinander. Bevor es Morgen geworden ist, haben wir uns schon wieder getrennt. Wir wissen genau, war wir voneinander wollen. Amüsieren wir uns so gut miteinander wie es eben geht. [...]".
Schnell erfahren wir, dass Hans schon im Gefängnis saß und morgen wieder eine Vorladung vor Gericht hat. Und, dass Hans gern liest, er hat einen Ringelnatz-Band und einen Nietzsche-Band bei sich. Hans und Hubert ziehen mit mir durch Lokale, in denen sich alternde Transvestiten betrinken. Huschen durch das nächtliche St. Pauli, auf der Suche nach einem Ort nur für sie, immer in der Angst, als Homosexuelle erkannt zu werden. Hans findet einen dunklen Hausflur. Nach dem Sex verschwindet er in der Nacht, "und ein geringster Rest Speichel seines letzten Kusses wird auf meinen Lippen kalt ...".
Vor Hans-Herman Rief bezeichnet Hubert Fichte die "St. Pauli-Geschichte" als "nur eine Skizze, nur ein Steinchen aus dem großen Mosaik eines halbgeschriebenen, unendlichen Romans, der mein Leben behandelt, - den mein Leben formt. Einige Gedanken auch zu den großen Themen Asozialität, Liebe, Verzweifelung und Würde [...]".
Und ich bin dem ausführlichen Nachwort von Wilfried F. Schoeller dankbar dafür, dass es mich nicht allein lässt mit der Erzählung, sie in Fichtes Biografie verortet.
Da stehe ich nun mit dieser Erzählung Fichtes und frage mich, ob sie allem anderen Erzählen über die Reeperbahn ihre Berechtigung entzieht. Ob es jemand je wieder in der gleichen Qualität schaffen wird, über ein Gefühl für St. Pauli zu schreiben. Ich habe viele Geschichten lesen, die auf St. Pauli spielen und etwas über diesen Stadtteil erzählen wollen. Wenige Brilliante, einige Gute und viele Mäßige. Niemals eine so Echte wie Fichtes "St. Pauli-Geschichte". Ich frage mich, wie er diese Geschichte schreiben konnte, die so unfassbar nah ist, als wäre jemand mit einer Kamera dabei gewesen und hätte hinterher den Film bis ins kleinste Detail abgeschrieben. Eine Kamera, die auch das Innenleben des Betrachteten filmen kann. Und das schon in Fichtes erster Erzählung.
Ich weiß, was danach kommt. Schon bevor ich die "St. Pauli-Geschichte" las, war Fichte für mich der große Hamburger Stadtschreiber. Doch mit dieser Erzählung erschüttert mich nicht nur der Stadtschreiber Fichte, sondern auch der Homosexuelle Hubert.
Was mir beim Schreiben dieser Kritik im Ohr bleibt, ist der Hamburger Singer-Songwriter Bernd Begemann, der singt: "Oh, St. Pauli. Du hast mich umarmt, als mich niemand anders wollte, beschützt, als ich betrunken auf die Straße rollte. Als ich vor 10 Jahren her kam, war ich ziemlich arm. Jetzt bin ich immer noch arm. Oh, St. Pauli du kennst mich und du machst es mir leicht. Oh, St. Pauli, man fühlt sich wie ein Gewinner, obwohl man nichts erreicht, nein. Deine leichten Straßen unter meinen leichten Schuhen, man kann alles tun. Bloß nicht ausruhen. Manchmal denk' ich, ich kann mich nicht mehr lange halten. Willst du mich behalten? Oh, St. Pauli, du elendes Miststück, kriegst mich nicht klein. Wenn ich weg bin wirst du immer noch da sein. [...] Oh, St. Pauli, einmal berührt, für immer verflucht. Oh, St. Pauli, seit ich Dich fand hab ich nicht mehr gesucht."
Wenn es nach Fichte keine Literatur über diesen Ort mehr geben sollte, dann kann vielleicht über diesen Stadtteil nur noch gesungen werden. Das hat noch eine Berechtigung.
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