Die Kunst der Wissenschaft

Claudia Reiche erklärt dem staunenden Publikum, warum ihr digitaler Feminismus (un)möglich ist

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er habe besser singen sollen, statt bloß zu reden, konstatierte Friedrich Nietzsche im "Versuch einer Selbstkritik" an seiner Schrift "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik". Auch bedauerte er, dass er es nicht gewagt habe, als Dichter aufzutreten. Denn schließlich habe er "die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers" sehen wollen, "die Kunst aber unter der des Lebens..." Der näheren Ausführung enthebt sich der Dionysosjünger mit den für ihn so typischen - ebenso bedeutungsheischenden wie nichtssagenden - Pünktchen.

Exakt 120 Jahre nach Nietzsches Selbstkritik strebt das "Frauen.Kultur.Labor thealit" einen neuen methodenkritischen Ansatz "als experimentelle Form von wissenschaftlicher Arbeit" und "auf diese Weise als Kunst" an, um so verändernd in "Wissens- und Repräsentationsformen" einzugreifen und diese Veränderungen "in das, was sich heute Theorie nennt", "hineinzutragen".

Unter anderem schlägt sich dieses Vorhaben in einer von Ulrike Bergermann, Claudia Reiche und Andrea Sick herausgegebenen Schriftenreihe nieder, deren erster Band den Titel "Digitaler Feminismus" trägt und aus der Feder von Mitherausgeberin Reiche stammt.

In einer nicht selten leicht hermetischen Sprache führt die Autorin zunächst aus, warum der für ihr Buch gewählte Titel "ebenso verfehlt wie gelungen" sei, und lässt mit diesem konträren Gegensatz schon auf der ersten Seite ein Faible für Formulierungen von Widersprüchen und scheinbaren Ungereimtheiten aufscheinen, die verdächtig nach den nicht wirklich gewagten Scherzen klingen, wie man sie bislang vor allem von Jaques Derrida kannte, etwa aus seinen Ausführungen über die Unhöflichkeit, höflich zu sein. Reiche allerdings steigert das Spiel mit Widersprüchen und vertritt die beiden zueinander in kontradiktorischem Gegensatz stehenden Thesen "1. Die Geschlechterdifferenz ist sichtbar. 2. Die Geschlechterdifferenz ist unsichtbar." Warum diese doppelte These keineswegs barer Nonsens ist, und welche Konsequenzen sich aus ihr für "den (logisch problematischen) Ort des 'Weiblichen', wie ihn cyberfeministische Verfahren neu zu bestimmen versuchen", und damit für die "Anwendbarkeit in binärer Logik" ergeben, kann man in ihrem Text "Feminismus ist digital" nachlesen, einer der in dem vorliegend Buch versammelten Arbeiten, das "Texte verschiedener Kontexte aus einer Zeitspanne von etwa zehn Jahren" versammelt, die von Reiche in drei Rubriken unterteilt wurden: "Lebende Bilder", "Maschinelle Logik" und "Gender Kino". Behandelt werden etwa "Das Visible Human Project", dem gleich mehrere Texte gelten, "ephemere Bildkörper", die "Unmöglichkeit des Nicht-Eingreifens in Film und Simulation" oder die Frage, was Cyberfeminismus heißen soll.

Mag vieles hinsichtlich Vorhaben und Durchführung durchaus neu und möglicherweise das Ganze sogar Kunst sein - dass all dies jedoch auch stets Wissenschaft ist, wird nicht jedeR unterschreiben wollen, während anderes, wie etwa die Interpretation des Filmes "Copycat" in Zeiten gender-theoretisch belehrter Kulturwissenschaften so unkonventionell nun auch wieder nicht ist. Aber man weiß ja: Wissenschaft ist stets das, was von einer wissenschaftlichen community als solche anerkannt ist, und somit eine Frage der Deutungshoheit, oder anders gesagt: eine nicht zuletzt diskursiv zu entscheidende (Macht-)Frage.


Titelbild

Claudia Reiche: Digitaler Feminismus.
thealit-Verlag, Bremen 2006.
409 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3930924064

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