Reisen ins Herz der Finsternis

Berichte von Abenteurern und Forschern aus dem Kongo 1875-1908

Von Horst SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Horst Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mitte des 19. Jahrhunderts war der Kongo für die Europäer noch terra incognita. Auf den Weltkarten und Globen jener Zeit prangte ein riesiger weißer Fleck im Herzen Afrikas. Neben den Polarregionen galt der Kongo als das letzte noch unerforschte Gebiet der Erde. Arabische Sklavenhändler hatten den Kongo indes längst für ihre Zwecke erschlossen, mit ihren Menschen-Raubzügen alte Stammesordnungen zerstört und unzählige Einwohner des Kongo-Gebietes in die Sklaverei verkauft. Um 1870 drangen erstmals europäische Abenteurer und Forscher in das Territorium vor, darunter der Livingston-Entdecker Henry Morton Stanley.

Der belgische König Leopold II. ließ Stanley in seinem Auftrag mit über 400 Stammeshäuptlingen Verträge abschließen, in denen diese ihr Land mitsamt ihren Untertanen an den belgischen König, der den Kongo selbst nie bereiste, abtraten. Auf der Berliner Afrika-Konferenz bestätigten die europäischen Kolonialmächte 1884 Leopolds Ansprüche und erkannten das gesamte Kongobecken als seinen Privatbesitz an. Leopold II. gab vor, den arabischen Sklavenhandel im Kongo entschieden bekämpfen zu wollen. Doch ging es ihm keineswegs um die Befreiung der Sklaven, sondern um die rücksichtslose Ausbeutung der Bevölkerung. Das Kongo-Gebiet war reich an Bodenschätzen und vor allem an Lianen-Kautschuk, den die damalige Industrie in riesigen Mengen benötigte. Leopold II. und seine Schergen beuteten den Kongo, der ein Gebiet umfasste, das flächenmäßig rund achtzig mal so groß wie Belgien war, rücksichtslos aus. Die "Eingeborenen" wurden mit brutalsten Mitteln zur Zwangsarbeit verpflichtet.

Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass der belgische Kolonialismus im Kongo unter der Regentschaft Leopolds II. mehrere Millionen schwarzafrikanischen Arbeitssklaven das Leben kostete. Es war ein System der Vernichtung von Menschenleben durch Zwangsarbeit, das in seiner Dimension erst vom Holocaust übertroffen werden sollte. Der englische Schriftsteller Joseph Conrad (1857-1924), ein gebürtiger Pole, hat die Schrecken und den Terror des belgischen Kolonialsystems im Kongo in seiner auf eigenen Erfahrungen beruhenden berühmten Erzählung "Heart Of Darkness" (1899) eindringlich beschrieben und damit - in einer Reihe mit Schriftstellern und Journalisten wie Mark Twain - den Anstoß zur Bildung einer internationalen Menschenrechtsbewegung gegeben, die das Augenmerk der Weltöffentlichkeit auf die Barbarei von Leopolds Kongo-Kolonialismus lenkte.

Zeitgenössische Reiseberichte über den Kongo aus den Jahren 1875 bis 1908 versammelt jetzt ein Lesebuch, das Thomas Ehrsam, Kurt Horlacher und Margrit Puhan unter dem Titel "Der weiße Fleck" im Auftrag der Museumsgesellschaft Zürich herausgegeben haben.

Das Buch beginnt mit einem informativen Vorwort von Thomas Ehrsam, in dem er die sozial- und wirtschaftshistorischen Aspekte der Schreckensherrschaft von Leopold II. im Kongo knapp und präzise skizziert. Es folgen neun Auszüge aus zeitgenössischen Reisebüchern über den Kongo. Die Texte stammen von den Abenteurern beziehungsweise Forschungsreisenden Henry M. Stanley, Emile de Laveleye, Harry Hamilton Johnston, Herman Wissmann, Ludwig, Wolf, Curt von Francois, Hans Mueller, Herbert Ward, Edmond Picard und Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg. Allen Texten sind zeitgenössische Illustrationen beigefügt und kurze biografische Angaben und sonstige Hintergrundinformationen zu den jeweiligen Autoren und Texten vorangestellt. Den Abschluss des Buches bilden zwei Essays von Hans Christoph Buch, die eine Brücke vom Kongo Leopolds II. zum Kongo der Gegenwart schlagen.

Die eingangs erwähnten Gräuel, die das rassistische Kolonialsystem im Kongo unter der Herrschaft Leopolds II. kennzeichneten, finden in keinem der zeitgenössischen Texte kritisch Erwähnung. Es kommen Reisende zu Wort, für die der Kongo und seine Bewohner in der Tat Fremde waren. Die Wahrnehmung dessen, was sie auf ihren abenteuerlichen Reisen im Kongo sehen und hören, ist noch nicht von vorgeprägten Bildern und Klischees geprägt. Abgesehen vom entscheidenden rassistischen Stereotyp des europäischen Kolonialismus. Der Hybris nämlich, dass die europäische Kultur und Zivilisation der afrikanischen in allen Belangen überlegen und dass die Schwarzen als Rasse den Weißen grundsätzlich unterlegen seien. Das kolonialistische Denken ihrer Zeit und die Menschen verachtende, die Gesetze der Humanität außer Kraft setzende Politik Leopolds II. im Kongo in Frage zu stellen, wäre den im Lesebuch "Der weiße Fleck" zu Wort kommenden Afrikareisenden wohl nicht im Traum eingefallen. Die Texte gestatten es dem heutigen Leser aber, den Kolonialismus des späten 19. Jahrhunderts im Kongo durch die Brille der damaligen Zeit zu sehen.


Titelbild

Thomas Ehrsam / Kurt Horlacher / Margit Puhan (Hg.): Der weiße Fleck. Die Entdeckung des Kongo 1875-1907.
Mit einem Essay von Hans Christoph Buch.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2006.
160 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3312003784
ISBN-13: 9783312003785

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