Die andere Gangart

Michael Schindhelms Debütroman

Von Holger HeimannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Holger Heimann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Spannung von Wollen und Wünschen - allein zu bleiben und einer von denen zu sein - das ist Robert. Der Ich-Erzähler in Michael Schindhelms Debütroman "Roberts Reise" gehörte und gehört nie dazu - weder damals noch heute. Und alle Erfahrungen, leidvolle wie freudige, fließen in dem einen Gedanken zusammen: "Nicht dazuzugehören gibt große Sicherheit, solange man freiwillig nicht dazugehört." Wer so redet, der spricht vom eigenen Leben, dem ist das Anderssein Lebenssubstanz, der will so sein- und spürt doch ein Ungenügen.

Michael Schindhelm, Jahrgang 1960, ist in der DDR aufgewachsen. Über den Umweg eines Chemiestudiums in der Sowjetunion und einer Anstellung an der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin kam er zum Schauspiel und ist heute Intendant am Theater Basel.

Es sind dieselben Stationen, die der Leser auch durch Robert kennenlernt. Eine Frage drängt sich deshalb unvermittelt und früh auf: Was ist Fiktion, was Autobiografie in diesem Buch? Man kann sich der Ansicht eines Rezensenten anschließen, dies sei gar kein Roman; ein Buch zwar, aber nicht der Rede wert. Die zweite Möglichkeit ist, dass die Frage, welches Erleben tatsächlich und welches lediglich möglich ist, wo das eine beginnt und das andere aufhört, von Seite zu Seite belangloser wird, je länger man Robert auf seiner Reise begleitet. Dann nämlich wird der ganze Reichtum dieses Romans sichtbar, rücken die Schwierigkeiten einer Identitätssuche und die wie beiläufigen persönlichen Triumphe der Selbstbehauptung inmitten radikaler gesellschaftlicher Umbrüche in den Blick.

Die Gegenwart, Roberts Wahlheimat, die Schweiz, kommen kaum vor in diesem Buch, es sei denn, man betrachtet die Vergangenheit als Gegenwart, als eine Zeit, die vorbei und doch nicht vorbei ist, wie Robert es tut. Schindhelm schreibt hier von einer Erfahrung, wie sie Menschen immer wieder machen, von der Vergegenwärtigung des Vergangenen - in Zeiten nach dem Sturm.

Damals - das ist eine Jugend in Thüringen, ist die Schulzeit, dann das Studium in Woronesch, der Einmillionenstadt, die nur ein winziger Klecks ist in der großen Weite Rußlands. Damals - das ist ein ostdeutsches Leben. "Was hatte ich mit den Leuten zu tun, die in Worpswede, Köln oder Regensburg aufgewachsen waren?", fragt Robert an einer Stelle.

Eine seiner frühesten Erinnerungen sind die gemeinsamen Parkspaziergänge mit der Mutter. Dabei kam es vor, "daß das Kind heimlich hinter dem Rücken der Mutter zu humpeln begann und mit lauernder Neugier darauf wartete, dass sich die passierenden Kurgäste hinter ihm umdrehten und dem sonderbaren Krüppelkind nachschauten." Das Anderssein - hier wird es als Haltung, als offener Affront gegenüber dem Gewöhnlichen eingeübt. Später, in der Schule etwa, wird es für den Knaben schwieriger. Er merkt, dass er fallen kann und pendelt zwischen verstecktem Widerstand und begrenzter Anpassung. Sein Zick-Zack-Kurs führt nach Osten. Nach Woronesch.

Fünf Jahre will der junge Chemiestudent bleiben. Aber was zunächst als Ausbruch aus der Enge scheint, wird zur Ankunft im "Land der unbegrenzten Traurigkeit". Es gibt ein bewährtes Gegenmittel: Wodka. Zumindest in dieser Beziehung kommt er an im Riesenland. Sonst bleibt er ein Fremder auch hier, verbarrikadiert sich zuletzt in seinem schäbigen Wohnheimzimmer und geht nur nach draussen, wenn es sich nicht vermeiden läßt. Man versteht ihn gut. Um ihn herum ist Dreck, Verwahrlosung, Armut. In Bauruinen hausen Obdachlose und Säufer. Die Einheimischen sind und bleiben Robert fremd, mit seinen Landsleuten will er nichts zu tun haben. Schindhelm erzählt in eindrucksvollen, manchmal drastischen Bildern. Die Welt, die er beschreibt, kann nicht anders als verrückt genannt werden: "Oft genug hatte ich auf Normalität gehofft, darauf gewartet, dass das Leben in Woronesch durch mich hindurchstoßen würde, leicht und schmerzlos, ohne mich aus der Bahn zu werfen." Vergebliche Hoffnung. Es sind nur wenige Menschen, zu denen er sich hingezogen fühlt - Außenseiter in der russischen Provinz auch diese: Da ist Giuditta, die Italienerin, die zu seiner Geliebten wird, aber irgendwann für immer nach Hause fährt, ohne dass Robert den Mut findet, ihr zu folgen. Da ist Pit, der Zimmergenosse, der am liebsten Mick Jagger wäre, der an Ruhr erkrankt und den Anschluß ans Studium verpaßt. Und da ist Tene, die Afrikanerin, die in der Sowjetunion groß geworden und deren Muttersprache Russisch ist, die aber wegen ihrer Hautfarbe Fremde bleibt im eigenen Land. Auch sie fährt eines Tages davon.

Schindhelm versteht es, in wenigen Sätzen das Verstörende und auch die Komik des vergangenen Lebens aufzuzeigen. Nur manchmal gerät das Buch in den essayistischen Passagen ein wenig dozierend, häufiger indes verdichten sich die Erfahrungen zu treffenden Sinnsprüchen wie diesem: "Man steigt nicht mit achtzehn durch das Fenster auf der Rückseite aus dem geschlossenen Haus und kehrt fünf Jahre später durch den Haupteingang zurück." Der Rückkehrer kommt nicht daheim an, kann es nicht. Seine Forschungen sind sinnlos, das weiß er, Jahrzehnte hinter dem Westen zurück. Er kündigt, zieht sich erneut zurück. Robert wird zum skeptischen Beobachter und bleibt es noch oder gerade dann als Millionen aufbrechen: Woher kamen plötzlich all die Revolutionäre? Aber die Dinge überschlagen sich, reißen auch ihn mit. Robert fährt davon - einmal mehr. Am Ende seiner Reise aber ist er nicht. Und wir warten gespannt auf die Notizen vom nächsten Streckenabschnitt.

Titelbild

Michael Schindhelm: Roberts Reise.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München 2000.
320 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3421053308

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