Neue Herausforderung für den Deutschunterricht
Angelika Buß konzipiert eine intertextuelle Literaturdidaktik
Von Torsten Mergen
Selbstbewusst und methodisch innovativ, dies sind Attribute, die man der Deutschdidaktik nach den schweren Rückschlägen durch PISA und mehrfach diagnostizierter kultureller Verflachung nur wünschen kann. Daher wirkt es sehr belebend für den germanistischen Diskurs, wenn eine aktuelle fachdidaktische Dissertation mit einem provokanten Zitat beginnt: "Hat ein Thema - aus welchen Gründen auch immer - seine intellektuelle Brisanz verloren, dann - so könnte man vermuten - schlägt die Stunde der Didaktik. Das muss nicht nur ein Nachteil sein, wenn man nicht gleich auf Verwertung setzt, weil man nämlich aus etwas distanzierterer Perspektive manches sehen kann, was im jeweiligen Kampfgetümmel nie ins Blickfeld gerät."
Diesem Anspruch versucht die Arbeit von Angelika Buß gerecht zu werden, indem sie sich der Frage zuwendet, welchen Einfluss das große Feld der Intertextualität für die Arbeit mit Lektüren im Deutschunterricht besitzt. Bevor man als Leser allerdings am konkreten Fall von Patrick Süskinds Roman "Das Parfum" erfahren kann, welche Desiderate die bisherige Arbeit mit Süskinds Bestseller in der Schule begleitet haben, stellt Buß die Frage nach der Theorie: Sie wendet sich den Ursprüngen und der Entwicklung des Begriffs "Intertextualität" zu und wählt dabei geschickt aus der überbordenden Fülle der Fachliteratur aus, sodass der Leser auf wenigen dutzend Seiten einen lesenswerten, aber nicht durchgehend lesevergnüglichen Einblick in das Themengebiet erhält. Sätze wie "Gemeinsames Anliegen aller Vertreter des moderaten Lagers ist es, an die Stelle des textontologischen Konzepts in der Nachfolge von Kristeva eine textdeskriptive Kategorie zur Beschreibung und Analyse von Texten zu setzen, die Intertextualität nicht als Charakteristikum, sondern als Spezifikum einer bestimmten Form der Lektüre auffasst", sind sicherlich dem Umstand geschuldet, dass Buß' Text eine Dissertation an der Humboldt-Universität ist, die von dem bekannten Fachdidaktiker Michael Kämper-van den Boogart betreut wurde. Grundlage der Intertextualität ist die sicherlich mehr als nachvollziehbare Idee, dass Literatur selten bis niemals eine creatio ex nihilo sein kann, sondern Autoren vielmehr bewusst oder unbewusst mit ihren Texten auf andere antworten, sich von ihnen inspirieren lassen oder - im Extremfall - daraus abschreiben. Mit einfachen Worten formuliert, fragt der intertextuelle Ansatz danach, ob und wie die Bezugnahme eines literarischen Werkes auf ein anderes funktioniert. Hierbei handelt es sich um ein auch in der Literaturtheorie höchst umstrittenes und methodisch noch nicht abschließend erkundetes Terrain.
Theoretisch geht es daher dann auch in den folgenden vier Kapiteln der Arbeit zu, wo man sich kundig machen kann zu "Operationalisierter Intertextualität", über das "Verstehen intertextueller Sinndimensionen" oder zum "Prozess der intertextuellen Bedeutungskonstitution". In und zwischen diesen hochkomplexen und abstrakt referierten Methoden- und Kognitionskapiteln schimmert ab und an die schulische Perspektive durch. Das 3. Kapitel, nebenbei bemerkt das kürzeste der ganzen Arbeit, beschäftigt sich mit der Fragestellung "Intertextualitätsbegriffe und Systematisierungsversuche: Folgerungen für den schulischen Umgang mit Intertextualität". Darin kommt die Autorin zu dem Ergebnis, dass ein neues Lernziel respektive ein neuer Bildungsstandard notwendig seien, denn: "An die Stelle einer Abbilddidaktik, die das Ziel verfolgt, via Deutschunterricht die Ergebnisse der Germanistik zu vermitteln, sollte ein Umgang mit Intertextualität treten, der Schüler zumindest ansatzweise für die vielfältigen Formen und Funktionen von Text-Text-Beziehungen sensibilisiert". Ebenso erkennt die Autorin sehr wohl, dass das Vorwissen der Schüler für den neuen Standard "Intertextuelle Kompetenz" sehr diffus und heterogen ist, dennoch verteidigt sie ihr Anliegen mit dem nicht unbegründeten Argument, "dass Prätextkenntnisse nicht nur in außerschulischen Lektüreprozessen vererbt, sondern auch im Rahmen der Institution (und vorausschauender Unterrichtsplanung) erworben werden können".
Dass gerade Süskinds Roman "Das Parfum" den Gegenstand für einen intertextuellen Neuansatz der Literaturdidaktik liefert, verwundert kaum. Bietet der Roman doch ein hohes Maß an Bezügen auf andere Texte. Manche Leser gehen sogar so weit zu behaupten, Süskind "plündere tote Dichter wie sein Held Grenouille tote Häute". Diese Behauptung belegt Angelika Buß eindrucksvoll, indem sie lange Tabellen mit Text-Text-Anlehnungen vorlegt und kommentiert. Ebenso dokumentiert sie die nicht immer befriedigende Rezeption dieses Phänomens durch die fachdidaktische und unterrichtspraktische Literatur, die zwar sehr wohl Quellen- und Einflusstexte erkennt, diese aber häufig mit Blick auf das fehlende Wissen der Schüler ausblendet.
Daher schlägt Buß ein Modell der intertextuellen Lektüre vor, das aus sechs Phasen besteht und exemplarisch an Süskinds "Parfum" durchgespielt wird: Phase 1 wird als Irritations- und Einstiegsphase beschrieben, Phase 2 widmet sich dem Methodenwissen im Umgang mit Intertextualität, Phase 3 dient als "Aha-Phase", da Schüler hier die "Identifizierung des Prätextes" leisten. In den Phasen 4 bis 5 erfolgt der erste, noch hypothetische Deutungs- und Interpretationsversuch, um anschließend in der Phase 6 die Schüler dazu zu bewegen "zu überprüfen, in welchem Verhältnis die von ihnen erzielte Lesart zum Textganzen steht."
Auf den Punkt gebracht: Angelika Buß wagt etwas Neues, indem sie eine fachwissenschaftliche Kategorie ernst nimmt und konsequent auf die Literaturdidaktik anwendet. Allerdings ist Skepsis angebracht hinsichtlich einer Neukonzeption, die in Zeiten, in denen die primäre literarische Sozialisation immer problematischer ausfällt, einen Weg vorschlägt, der "erhöhte Verarbeitungsanforderungen an den Leser stellt". Außerdem fragt man sich als Leser nach einer mehrmaligen Lektüre, was die Adressaten dieser Studie - die Lehrerinnen und Lehrer des Faches Deutsch - als Ergebnis für ihre tägliche Arbeit mitnehmen sollen: Dass ihre Behandlung von Literatur noch weiter methodisch differenziert werden muss? Dass ein neues Lernziel in der Oberstufe verankert werden muss? Dass es nach kommunikativem Deutschunterricht, handlungs- und produktionsorientiertem Deutschunterricht und vielen anderen Ideen nun auch noch den intertextuellen Deutschunterricht geben muss? Eines kann man jedenfalls Buß nicht vorhalten: Die Leser sprachlich und inhaltlich ohne Herausforderungen zurückzulassen.