Versuchsanordnung, klaustrophobisch
Mit ihrem Roman "Hilflos" hat Barbara Gowdy der Tragikomödie endgültig den Rücken gekehrt - leider
Von Ulrike Schuff
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Alltag als Groteske und die Gewöhnlichkeit des Skurrilen - Barbara Gowdys fiktionales Universum ist bevölkert von randständigen Figuren, die die Autorin mit großer Empathie und erzählerischer Verve in ihrer jeweiligen Besonderheit, aber auch ihrer Normalität zeigt. Dabei wird das Bizarre nie zum Gegenstand des Voyeurismus, nie Selbstzweck - es ist das Allzumenschliche im Zerrspiegel, alles das sind wir selbst im Grunde, nur um ein paar Nuancen versetzt. Ein bisschen größer. Ein bisschen leidenschaftlicher. Ein bisschen tragischer. Und komischer, das unbedingt.
Die Autorin zieht ihre Leser hinein in die emotionale Welt ihrer Figuren - in die Köpfe des Mannes mit den zwei Köpfen und ihren gegenseitigen Hass auf Leben und Tod zum Beispiel. Oder in die Verzweiflung der namenlosen Nekrophilen in der Erzählung "Seltsam wie die Liebe", als sie erkennt, dass sie unfähig ist, sich in einen Mann zu verlieben, der nicht tot ist: "Ich dachte immer wieder: 'Ich bin nicht normal.' Das hatte ich bisher nie wahrhaben wollen. Natürlich ist mit Leichen zu schlafen nicht normal, aber solange ich Jungfrau war, muss ich wohl angenommen haben, dass ich damit aufhören konnte, wenn ich wollte."
Auch die Figuren in Barbara Gowdys neuen Roman "Hilflos" stehen am Rand, sind Außenseiter. Und ein Außenseiter, so die Autorin in einem Interview, "lebt im Krieg mit den gesellschaftlichen Normen." Und doch ist dieses Mal alles anders. Und leider so gar nicht komisch. Da ist die neunjährige Rachel, so außergewöhnlich schön, dass sich die Leute auf der Straße nach ihr umdrehen und der Headhunter einer Modellagentur für Kinder ihr einen Vertrag anbietet. Da ist ihre Mutter Celia, die sich unter anderem als Barpianistin durchschlägt und alles tut, um ihre Tochter zu beschützen, die sie zum Beispiel nie ohne Begleitung auf die Straße lässt - die sie aber andererseits hin und wieder bei einem Auftritt begleiten darf, was dazu führt, dass das sonst eher leer bleibende Trinkgeldglas sich füllt. Da ist ihr schwuler Vermieter und guter Freund Mika, der die beiden selbstlos unterstützt und die Angewohnheit hat, über seine Hunde zu kommunizieren. Und da ist schließlich Ron, der Held dieses Romans, der einen mehr schlecht als recht gehenden Reparaturservice für Haushaltsgeräte betreibt, Experte für alte Staubsauger ist, die er leidenschaftlich sammelt, und mit einer halbwegs in Zaum gehaltenen Vorliebe für kleine Mädchen. Und da ist schließlich seine Freundin Nancy, ein gutmütiger und etwas naiver Ex-Junkie mit der täglichen Dosis Marihuana und einem so beseelten Wunsch nach einem ganz normalen Leben, dass sie in einer verdrehten Art von Co-Abhängigkeit bereit ist, sich sehr lange Zeit etwas vorzumachen.
Anders als ihre Erzählungen und ihre großartigen ersten Romane "Fallende Engel" und "Mister Sandman" ist "Hilflos" keine Tragikomödie. Das verbietet schon der Stoff - Pädophilie und Kindesentführung. Außerdem hat Barbara Gowdy sich schon in ihren letzten Romanen ("Der weiße Knochen" und "Die Romantiker") von diesem Pfad entfernt. "Es ist Liebe", lautet der letzte Satz des neuen Romans. Ron verliebt sich in Rachel, er ist geradezu besessen von ihr, vernachlässigt sein Geschäft, fährt immer öfter an ihrer Schule vorbei, verfolgt sie schließlich bis zu ihrer Wohnung, wahrt aber immer genug Abstand und ist vorsichtig genug, nicht aufzufallen. Dennoch wird er bemerkt - von Rachel, die annimmt, dass der Mann mit der Mütze, der sich hinter den Mülltonnen versteckt, heimlich ihre Mutter beobachtet. Und: Sie behält es für sich, damit ihre Mutter sich nicht aufregt.
Barbara Gowdy macht es sich und ihren Lesern mit diesem Roman nicht leicht. Sie wählt einen klassischen "schmierigen Typen" als Helden, mit dem niemand mitfühlen will, da kann die Autorin noch so empathisch seine Geschichte aufrollen. Ihm ein verschrobenes Hobby zuschreiben (soll ihn das sympathisch machen?) Ihn in seinem - etwas halbherzigen - Kampf gegen seine Leidenschaft zeigen, die der Alkohol zunächst zügelt. Er verrennt sich in die Vorstellung, Rachel vor anderen Männern (allen voran Mika) beschützen zu müssen, die sie angeblich missbrauchen. Gleichzeitig ist er sich über den sexuellen Aspekt seiner "Liebe" zu Rachel bewusst. Und baut umsichtig seinen Keller zu einem - liebevoll ausgestatteten - Gefängnis für sie um. Schließlich kidnappt respektive "rettet" er sie und die einfältige Nancy wird zu seiner Komplizin.
Liebe ist das aus verschiedenen Perspektiven beleuchtete Thema des Romans: Celia liebt ihre Tochter so sehr, dass sie fast erleichtert ist, als ihre Mutter stirbt, so muss sie Rachel mit niemanden teilen. Nancy liebt Ron blind und verzweifelt und manchmal sogar selbstlos. Mika liebt Celia und Rachel - nehmen wir an, denn diese Figur bleibt seltsam schemenhaft, ist nicht zu greifen - sei es, dass er seine Rolle für die Geschichte erfüllt hat (durch einen Unfall Mikas gelingt es Ron, Rachel in seine Gewalt zu bringen), sei es, dass doch Zweifel aufkommen oder bleiben sollen an der Art seiner Liebe zu Rachel.
"Hilflos" ist aus der Perspektive der vier Hauptfiguren beschrieben (fünf, will man die marginale Figur Mika mitzählen), die routinierte Erzählerin Barbara Gowdy wechselt Fokus und Tempo, bis am Ende mit zunehmender Dramatik die Szenen kurz hintereinander weg geschnitten werden. Auf der einen Seite Celia, die mit immer neuen Suchaktionen gegen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ankämpft, auf der anderen Seite Ron, Nancy und Rachel, drei Figuren, die sich auf je eigene Art und Weise unter klaustrophobischen Bedingungen und mit zunehmendem Druck zwischen Sein und Schein, Wahrheit und (Selbst-)Betrug einrichten. Widerwillig sehen wir Ron dabei zu, wie er seine Erregung immer schlechter beherrschen kann, Nancy, selbst Missbrauchsopfer, wie sie sich eigens immer wieder vergewissern muss, dass alles nur zu Rachels Schutz geschieht, und schließlich Rachel, die ihre instinktive Angst vor Ron auf eingebildete beziehungsweise eingeredete "Sklaventreiber" überträgt, ihre Abneigung gegen ihn verliert und ihn schließlich als ihren Beschützer sieht.
Wie in einer Versuchsanordnung, beinahe kammerspielartig, kommt diese Geschichte einer Kindesentführung daher. Dazu passt, dass man eher den Eindruck hat, die Handlung spiele in einer Kleinstadt, ja beinahe dörflichen Sphäre, und nicht in der Großstadt Toronto. Unspektakulär, unaufgeregt wird das Thema in Szene gesetzt und endet auch so - Rachel bleibt zumindest äußerlich unversehrt. Selbst die Medien, die natürlich auch im Roman eine Rolle spielen, sind seltsam zahm, so bleibt der Fokus ganz auf die innere Dramaturgie gerichtet. Und es bleibt eine große Distanz beim Lesen. Was man bei einem solchen Thema als gelungene Umsetzung bezeichnen könnte. Und doch. Wer will schon einen Roman lesen - noch dazu einen von Barbara Gowdy - bei dem man so sehr draußen bleibt. Spätestens wenn Ron neben Rachel vor dem Puppenhaus kniet und Rons Kindheitsgeschichte nachgeliefert wird - seine erste Kinderliebe und seine ersten sexuellen Erfahrungen als Elfjähriger mit der achtjährigen Tochter der Geliebten seines Vaters, bei der ein Puppenhaus eine große Rolle spielte - wird die Geschichte endgültig fade und man fragt sich, wozu man dieses Buch hat lesen müssen - hoffend, dass die Meisterin der Tragikomödie zu ihrem Fach zurückkehrt. Beim nächsten Mal. Bitte.