Späte Suche

In Hanna Johansens Roman "Der schwarze Schirm" gehen zwei Frauen aufeinander zu, ohne sich dabei auch nur einen Schritt näher zu kommen

Von Georg WalzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Walz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir könnten Claire überall begegnen. Alleinstehend und gut situiert ist sie. Eine gepflegte Frau um die fünfzig, gut angezogen und völlig unauffällig - als fleißige und zuverlässige Mitarbeiterin in ihrer Firma geschätzt. Eine Frau, die nach ihrer Tochter zu suchen beginnt, die sie vor 25 Jahren geboren und sofort nach der Geburt zur Adoption freigegeben hat. Und zwar ohne das Neugeborene jemals im Arm gehalten und die Wärme und die Hilflosigkeit des kleinen Körpers gespürt zu haben. Damals hatte sie keine Alternative zu ihrem Handeln gesehen.
Der Zufall will es so, dass sie bei der Suche nach ihrer Tochter Rose im Zug kennenlernt. Obwohl alle Plätze im Abteil frei sind, geht Rose zielstrebig auf Claire zu und setzt sich zu ihr. Sie ist das völlige Gegenteil von Claire - ungepflegt und verstört. Auch sie sucht in ihrer eigenen Vergangenheit nach dem Leben und der Geborgenheit. Rose ist etwa so alt wie Claires Tochter und ist auf der Suche nach ihrer Mutter.

Ist es Absicht, dass Rose ihren altmodischen schwarzen Schirm, den sie nach eigener Aussage so sehr benötigt und an dem ihr viel liegt, beim Aussteigen im Zugabteil vergisst? Pflichtbewusst nimmt ihn Claire an sich und beschließt ihn Rose zurück zu geben, obwohl sie sich kein Wiedersehen wünscht. Damit nimmt die schicksalhafte Begegnung ihren Lauf und entwickelt eine unvorhersehbare Eigendynamik, die sich unmittelbar auf Claires Leben auswirkt.
Bei einem nur oberflächlichen Lesen kommt schnell der Gedanke auf, dass es erstaunlich ist, mehr als 150 Seiten über das Problem eines vergessenen schwarzen Regenschirmes und die vergebliche Versuche, diesen seiner Besitzerin zurück zugeben, zu schreiben. Immer dann, wenn sich die beiden ungleichen Frauen treffen, hat Claire den Schirm nicht dabei. Doch dies ist nicht notwendig, da sich bei jedem Treffen der Beiden neue Geschichten offenbaren. Wobei die von Rose so sind wie sie selbst erscheint, verstört und wirr, zu Teilen auch unwahr. Die von Claire entsprechen zwar der Wahrheit, hinterlassen aber den Anschein, als wären sie viel lieber im Verborgenen geblieben.
Die Erzählweise ist von einer Sensibilität und Klarheit geprägt, die Claire dem Leser mit jeder Seite mehr und mehr ausliefert. Diese Tiefe wiederum führt in eine diffuse Gefühlswelt, die zunehmend die Frage aufwirft: Wie soll es weitergehen?

Der Schirm ist dabei nur Symbol für die Unfähigkeit, nichts loszuwerden.
Geschickt wird eine Verstrickung von Antagonismen und Ambiguitäten aufgebaut. In dieses Spannungsfeld zwischen den beiden Frauen wird gekonnt ein weiteres Schicksal eingebaut, das eng mit Claires verflochten ist. Claires betagte Mutter, die in einem Altersheim lebt, schließt den psychologischen Kreis Mutter - Tochter.

Rose scheint Claire nämlich als Mutter adoptiert zu haben. Aggressiv drängt sie sich immer mehr in ihr Leben und nutzt deren menschliche Schwäche aus. Sie braucht sie und wäre gerne ihre Tochter. Doch dies ist nicht möglich. Oder vielleicht doch?

Als Claires Mutter im Altersheim stirbt, kommt zum Spiel der Verwirrung noch das Bewusstsein der Vergänglichkeit hinzu. Auch hier hält uns die Geschichte einen Spiegel vor, der beim Hineinblicken die Unordnung des eigenen Ichs erahnen lässt. In diesem fein gesponnenen Netz verfängt sich Claire zusehends, bis ihr bisheriges Leben als einziger Widerspruch erscheint.

Plötzlich und unvorhergesehen, wie Rose in Claires Leben getreten ist, verlässt sie dieses für immer.

Was das Buch so lesenswert macht, ist die Unbeholfenheit der Protagonistin, die ihr Leben lebt, ohne es in den Griff zu bekommen. Fast möchte man meinen, dass die Autorin ihr bewusst und absichtlich die Rolle der Antiheldin zugeschrieben hat. Für einen flüchtigen Betrachter ist die Fassade stimmig. Nur wer sich die Mühe macht, dahinter zu blicken, trifft auf die Widerspürche eines Lebens. Bis zum Schluss bleibt unklar, ob Rose nicht vielleicht doch die gesuchte Tochter ist, obwohl die Antwort auf diese Frage von Anfang an nicht offen gelassen wurde.
Wer spektakuläre Spannung erwartet, wird enttäuscht. Die Erzählweise der Geschichte ist vergleichbar mit einem träge dahinfließenden breiten Fluss, der an vielen Stellen mit unerwarteten Wirbeln und Strudeln überrascht und Details an die Oberfläche spült, die üblicherweise unter der trüben Oberfläche verborgen geblieben wären.


Titelbild

Hanna Johansen: Der schwarze Schirm. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2007.
160 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446207554

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