Die Aporie der Fremddarstellung
Jochen Dubiels "Dialektik der postkolonialen Hybridität" als Beitrag zur Überwindung des kolonialen Blicks in der Literatur
Von Annika Nickenig
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn seinem Text "Ein Forschungsbericht" lässt Hubert Fichte die reisenden Protagonisten Jäcki und Irma über ihre eigene Wahrnehmung des Fremden reflektieren: "Hast du nicht das Gefühl, der Barkeeper bemüht sich angestrengt, den Wilden zu spielen, den wir, wie er glaubt, von ihm erwarten? - Das ist fast von Kafka." Der Fremde ist fern jeder Ursprünglichkeit oder Authentizität nur noch Spiegel der auf ihn projizierten Vorstellungen des Westens. Und bei Kafka hat diese Konstellation bereits verzerrte Formen angenommen: "Der Neger, der von der Weltausstellung nach Hause gebracht wird, und, irrsinnig geworden von Heimweh, mitten in seinem Dorf unter Wehklagen des Stammes mit ernstestem Gesicht als Überlieferung und Pflicht die Späße ausführt, welche das europäische Publikum als Sitten und Gebräuche Afrikas entzückten."
Beide Texte verhandeln die Problematik der Wahrnehmung und Darstellung des Fremden in einem postkolonialen Kontext, die Schwierigkeit - wenn nicht Unmöglichkeit - in der Beschreibung des Anderen diesen nicht zu vereinnahmen und zu reduzieren und somit die koloniale Geste diskursiv zu wiederholen.
Dieser Aporie ist Jochen Dubiels Buch gewidmet, vor allem aber ihrer Überwindung. In seiner Heterogenität zeichnet sich der koloniale Blick, wie Dubiel sehr systematisch und nachvollziehbar darstellt, durch wiederkehrende Muster und Strategien aus. Über die stereotype Herabsetzung des Fremden zum Menschenaffen, Heiden, minderbemittelten Barbar, edlen oder guten Wilden sowie über die Analogisierung von Weiblichkeit und Wildheit entstehen die Kategorien der Furcht, Usurpation und Dichotomie, die den kolonialen Diskurs strukturieren.
Auch der postkoloniale Blick, der als Opposition gegenüber historischen und gegenwärtigen Formen diskursiver kolonialer Gewalt definiert wird, bleibt zunächst zwischen Usurpation und Assimilation des Fremden gefangen. Dubiel zeichnet auf philosophischem Wege, über semiotische, hermeneutische und postkoloniale Theorieansätze und über die Denkbewegungen von Hegel, Adorno und Bhabha die Problematik der Repräsentation nach, um schließlich den "logischen Weg" zugunsten einer dialektisch-kritischen Herangehensweise zu verwerfen: Darstellung ist immer ein 'Othering', eine diskursive Konstruktion und Projektion des Eigenen auf das Fremde. Die "semiotische Machtergreifung" lässt sich nur umgehen, wenn die aneignende Beschreibung des Fremden aufgegeben wird zugunsten einer Erschütterung des Eigenen in der Fremdheitserfahrung. Der Widerspruch wird zurück ins westlich-hegemoniale Ich projiziert, aus dem er allererst hervorgegangen ist. Auf diese Weise wird das Eigene in seinem Wunsch nach Reinheit nicht länger bestätigt, sondern dekonstruiert, und doch "stimmt [es] also, daß das Bild des Fremden weiterhin im Dienste des Eigenen steht". Das hier formulierte Merkmal der Konzeption, in der abermals "das Fremde als Spiegel [fungiert]", lässt sich auch als Kritik gegen das errichtete komplexe Theoriesystem wenden: stellt es wirklich eine Lösung für das Problem der Fremddarstellung bereit, wenn doch das Erkenntnisziel sich verschoben hat hin zu der Frage nach den Bedingungen der Selbsterkenntnis?
Gleichzeitig ergeben sich aber, und das ist der entscheidende Punkt, subversive Möglichkeiten der Überwindung des kolonialen Blicks in der Selbstreflexivität und Polyphonie der (oftmals recht exemplarisch herangezogenen) Literatur. Die postkolonialen Schreibweisen werden durch den Entwurf einer intrakulturellen Poetologie zu erfassen versucht, wobei als zentrale Strategien die genuin politische Widerstandskraft der Bachtin'schen Dialogizität in ihrer Hybridisierung des Sinns und die strukturale Hybridität gesetzt werden. Letztere zeichnet sich durch die geforderte dezentralisierte Identitäts- und Sinnstruktur aus, eröffnet den von Fichte gesuchten Weg zwischen dem Schweigen und der Sprache der Sieger in der Konzeption des Dritten: so gilt es, "Alterität als solche jenseits der Aneignung bewußt" zu machen. Der in der postkolonialen Literatur manifestierte Doppelblick lässt sich nur über eine hermeneutisch getreue und kontrapunktische Lektüre entschlüsseln, wie es beispielhaft an Kafkas "Bericht für eine Akademie" vorgeführt wird. Diesen Text liest Dubiel in seiner "Spannung zwischen Buchstäblichkeit und Bedeutung" sehr überzeugend als "Alptraum des im Wachzustand seiner selbst so gewissen Kolonialherren". Der 'freie Affe' Rotpeter, als Übererfüllung des kolonialen Stereotyps, verkörpert den vom Kolonialdiskurs produzierten schizoiden Geisteszustand. Zugleich verweist er vermittels seiner unheimlichen Hybridität und seiner Verortung jenseits der empirischen Welt auf den Selbstbetrug der Aufklärung, auf das dem Kolonialsystem eigene Prinzip der Unterwerfung und auf die Ununterscheidbarkeit zwischen Käfig und Bühne, wo die Nachahmung menschlichen Verhaltens zur farce-ähnlichen Illusion der Freiheit wird.
Für den Literaturwissenschaftler, der sich mit dem Komplex der Postkolonialität mithilfe ihrer literarischen Mediatisierung auseinandersetzt, ergeben sich folglich zwei zentrale Aufgaben: zum einen muss er die spezifischen Strategien untersuchen, mit denen die Literatur sich der Aporie der Fremddarstellung nähert und dabei die eigene Partizipation am kolonialen Diskurs reflektiert. Zum zweiten muss angesichts der dadurch entstehenden kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Literaturwissenschaft ihr Standort neu bestimmt werden.
Beiden Aufgaben ist ein Dilemma zu eigen, dem sich die Dissertation zu stellen versucht: wie kann die Literatur das Fremde abbilden, wenn doch jede Form der Repräsentation immer auch die Vereinnahmung des Dargestellten bedeutet? Und wie kann der spezifisch literarische Zugang zum kulturwissenschaftlichen Problemfeld des Postkolonialismus geleistet werden, ohne dabei in Abhängigkeit von Nachbarwissenschaften wie Geschichte und Politologie zu geraten? Die der postkolonialen Theorie entgegengebrachten Einwände werden dabei zum methodologischen Ausgangspunkt, begründen sowohl die Notwendigkeit einer dialektisch-kritischen Selbstreflexivität wie auch die einer poetologischen Programmatik.
Jochen Dubiel beschreibt Auswege aus den beschriebenen Dilemmata, indem er sie tatsächlich als Auftrag versteht: so wird der Literaturwissenschaftler zum "Botschafter seiner Disziplin", der die in der Literatur angesiedelten Mechanismen ästhetischer Brechung herausarbeitet, die in ihrer hybriden Mehrdeutigkeit schließlich zur Überwindung des kolonialen Blicks führen.