Literaturgeschichte monumental

Anmerkungen zu einer Neuausgabe der "Tragischen Literaturgeschichte" von Walter Muschg

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum an einem Lehrstuhl für Germanistik, Literaturwissenschaft oder Kulturwissenschaft gibt es heute Persönlichkeiten von so überragender Präsenz wie den Schweizer Gelehrten Walter Muschg (1898-1965), der seit 1936 an der Universität in Basel unterrichtete. Diese Gegenwärtigkeit der Persönlichkeit spürt man in seiner "Tragischen Literaturgeschichte" in nahezu jedem Absatz. 1953 zum ersten Mal erschienen, liegt hier eine erweiterte und überarbeitete Fassung vor.

Aber man sei vorsichtig. Es ist keine Literaturgeschichte, wie man sie etwa aus dem Metzler Verlag unter verschiedenen Titeln kennt, sei es eine "Deutsche Literaturgeschichte" oder eine der englischsprachigen Literaturen. Muschg hat so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ein fundamentales Werk konzipiert und systematisch ausgeführt. Die Literaturgeschichte greift auf ein umfangreiches, umfassendes und leidenschaftliches Wissen zurück, mit dem sich Muschg einen ganz eigenen Weg durch die europäischen Literaturen bahnt. Dabei kommt ihm eine ausgeprägte analytische Fähigkeit zugute, die dem Leser eine Vielzahl von ungewöhnlichen Perspektiven eröffnet.

Im Nachwort schreibt Urs Widmer treffend: "Die Tragische Literaturgeschichte ist eines jener nicht allzu häufigen Werke der Wissenschaft, die man nicht nur liest, weil sie wertvolle Informationen und kluge Gedanken enthalten, sondern weil ihre Sprache und Form selber uns verführen und begeistern. So daß Walter Muschg Sprachmächtigkeit sein Buch zu dem macht, was er, seine Grenzen kennend, gar nicht schreiben wollte: zu einer Dichtung."

Es ist also keine Literaturgeschichte im konventionellen Sinne, sondern eher eine originelle und originäre Perspektive von Muschg als Leser auf seine Interpretation von Literaturgeschichte. Dabei verzichtet er nicht auf Bewertungen, grenzt ein, nimmt Autoren aus den gängigen "kanonischen Listen" heraus und hebt andere auf ein - so Muschg - verdientes Podest, setzt sie in den Vordergrund und betont das "Recht auf die Ewigkeit" der Autoren. Aber was daran ist "tragisch"? Wie verhält es sich mit dem Kontext, in dem Muschg seine großen Entwürfe von Literatur und ihrer historischen Bedingtheit konstruiert?

Die Basis bildet ein Menschen- und Weltbild, das sich auf die weitere Gestaltung des Literaturverständnisses aufwirkt: "Allem tragischen Denken ist gemeinsam, dass es das Leiden zum Mittelpunkt des Daseins macht. Es begreift die Welt durch den Schmerz." Dabei unterscheidet Muschg verschiedene Formen des Schmerzes, wobei er durchweg die europäische Literatur schematisiert, um sein Raster der Literaturgeschichte systematisch herauszuarbeiten. Dabei unterscheidet er letztendlich drei verschiedene Typen von Dichtern - den Magier, den Seher und den Sänger - , jeder mit einer besonderen Form der Tragik verbunden.

Bei der neuen Lektüre aus der zeitlichen Distanz von über fünfzig Jahren ist besonders der letzte der Dichtertypen interessant, der Sänger. Nach Muschg ist er es, der der irdischen Erscheinung ihren göttlichen Schein abgewinnt - und dabei ist das "irdisch" als "politisch" gemeint. Und damit ist Muschg im 20. Jahrhundert und im "Dritten Reich" angekommen, von ihm als "Apokalypse unserer Zeit" charakterisiert.

Stefan George wird ihm zum Vertreter einer "blutgetränkten" Literaturgeschichte. Muschgs Gedankenfigur setzt dabei auf ein "klares" Paradigma für Literaturgeschichte. Diese - beziehungsweise die Tragik - entsteht immer aus dem Göttlichen - egal ob aus dem Magier, dem Seher oder Sänger - , dieses ist aber immer gefährdet und hat eine "Entwickelungstendenz" zum Epigonalen. Auf den Magier wartet der Gaukler, auf den Seher der Priester und auf den großen Sänger der diesen überlebende Poet. Das Interpretationsmuster steht damit zu jedem Zeitpunkt der literaturgeschichtlichen Genese zur Verfügung und dient als übergreifendes Paradigma. Muschg stellt dem Leser damit ein ähnlich "allgemeingültiges" Modell für die Entwicklungsgeschichte der Literatur zur Verfügung, wie dies zum Beispiel in Arnold Hausers "Sozialgeschichte der Kunst und Literatur" (1951) vorgestellt wurde.

Am auffälligsten für den heutigen Leser sind die (fast ganz) fehlenden Textbeispiele, auf die sich der Autor bezieht. Nur die Ergebnisse seiner Lektüren fließen in die Darstellung ein. Auch lehnt Muschg in der Konzeption seiner Literaturgeschichte die Vorgehensweise seiner Vorgänger ab, eine Leitidee - etwa die Nation (Georg Gottfried Gervinus) oder die Stämme (Josef Nadler) - in seiner Darstellung zu verfolgen. Und so sind es auch nicht die Werke, die im Mittelpunkt stehen, sondern eher ein Abstraktum, das man als "Poesie" umschreiben könnte - in Anlehnung an Friedrich Schlegel. Der Hauptkritikpunkt an der Literaturgeschichte ist der Mangel an konkreter Substanz, gepaart mit fundamentalen Erkenntnissen, denen man oft allein gegenüber sieht: "Kunst ist Wille zur Vollendung. Mit genialer Phantasie und Sprachkraft ist es in ihr nicht getan, sie muß zur Meisterschaft gebracht werden. In der Kunst zählt nur das Vollendete, und vollendet heißt: unzerstörbar geformt. In jedem vollendeten Werk ist die Kunst am Ziel."

Obwohl man viele seiner Thesen nicht teilen kann, liefert Muschg in seiner Literaturgeschichte eine Reihe überraschender Standpunkte und weitsichtige Beurteilungen von Autoren, die die nachfolgenden fünfzig Jahre Rezeptionsgeschichte im Nachhinein bestätigt haben. Was beeindruckend bleibt, ist die ideengeschichtliche und sprachliche Gewalt seines Entwurfs einer Literaturgeschichte, die immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen wird.


Titelbild

Walter Muschg: Tragische Literaturgeschichte.
Diogenes Verlag, Zürich 2006.
751 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3257065310

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch