Katakomben der Fußnoten
Tomas Tomasek sichtet souverän die Forschung zu Gottfried von Straßburg
Von Günter Meinhold
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn ihrem Essay "Against Interpretation" bezeichnete Susan Sontag das Werk Franz Kafkas als "Opfer einer Massenvergewaltigung durch [...] Armeen von Interpreten". Auch Proust, Joyce, Faulkner, Rilke, Lawrence und Gide bescheinigte sie, um ihre Werke habe sich "eine dicke Kruste von Interpretationen abgesetzt." Ohne das arg Schrille dieser Polemik teilen zu wollen, bleibt die Feststellung, dass die genannten 'Klassiker der Moderne' - man könnte neben anderen ebenfalls auf Thomas Mann und Bertolt Brecht verweisen - einem veritablen Interpretationsfuror ausgesetzt waren und sind. Dies gilt allerdings auch für die 'Klassiker des Mittelhochdeutschen'; nicht zuletzt für Gottfried von Straßburg und seinen "Tristan". Über den Dichter und sein Werk hat Tomas Tomasek, Professor für Mittelalterliche Literatur in Münster, jetzt einen Forschungsbericht vorgelegt, der den Leser kundig durch die Labyrinthe der Sekundärliteratur und die Katakomben der Fußnotenwelt führt.
Zur Exordialtopik von Forschungsberichten gehört die 'Klage', derzufolge die Literatur über das Werk eines Autors von einem Einzelnen kaum noch zu überschauen sei und dass die Publikationsflut unvermindert anhalte. Vergegenwärtigt man sich die Forschungsanstrengungen, die dem Dichter des "Tristan" im Laufe zweier Jahrhunderte zuteil wurden - die dem Band beigegebene "Auswahlbibliographie" verzeichnet nicht weniger als dreiundfünfzig eng bedruckte Seiten -, dann darf man gespannt sein, wie Tomasek diese Stoffmassen bewältigt, ohne die Geduld des Lesers über Gebühr in Anspruch zu nehmen. Wohl gemerkt: nicht über Gebühr; denn dass ein Forschungsbericht dem Leser einige Anstrengungen abverlangt, liegt in seiner Natur.
Tomasek hat sich entschieden, seinen "Versuch einer erneuten Bestandsaufnahme" der Gottfried-Philologie nicht am Handlungsverlauf des Werkes zu orientieren, sondern mit Hilfe von Sachaspekten zu strukturieren. Zwar steht, wie könnte es anders sein, der "Tristan" im Zentrum des Buches. Darüber hinaus erhält der Leser jedoch auch Einblicke in das, was die Forschung über das Leben und die Zeit des meisters Gotfrit von Strâzburc ermittelt hat. Zudem erörtert Tomasek die handschriftliche Überlieferung, die Editionen sowie die Editionsgeschichte. Dem folgt ein Kapitel über die Gottfried zugeschriebene Lyrik. In weiteren Abschnitten, die der Autor ein wenig zu bescheiden als abbreviaturhaft charakterisiert, befasst er sich mit der Geschichte des Tristanromans, und schließlich präsentiert Tomasek die erste Kompilation von Werken, in denen Schriftsteller und Schriftstellerinnen des 19. und 20. Jahrhunderts auf Gottfrieds Roman in produktiver Rezeption zurückgriffen. Ergänzt und vervollständigt wird das Buch um die bereits genannte Auswahlbibliografie und, außerordentlich benutzerfreundlich, um zwei Register - eines zu den Episoden in Gottfrieds "Tristan", ein zweites zu den Sachaspekten des Romans. Die Strukturierung anhand der Sachaspekte und die aufschlüsselnden, den gezielten Zugriff ermöglichenden Register erlauben es, den Forschungsbericht als Handbuch zu Rate zu ziehen. Zwar gibt es mannigfache Quer- und Rückverweise in und zwischen den einzelnen Kapiteln, dennoch ist das Buch so konzipiert, dass die Teile auch separat mit Gewinn gelesen werden können.
Das Fazit, das Tomasek zieht, darf insgesamt ernüchternd genannt werden. Trotz der zweihundertjährigen Rezeptions- und Forschungsgeschichte, trotz des immensen Forscherfleißes kann die Gottfried-Philologie bislang nicht jene wegweisenden Leistungen verzeichnen, wie sie etwa für Wolfram von Eschenbach zu konstatieren sind. Selbstverständlich gibt es neben zahlreichen bemerkenswerten Forschungsbeiträgen auch solche, die belanglos und durch "Eklektizismus oder gar [das] Ignorieren der Sekundärliteratur" gekennzeichnet sind. Gleichwohl ist es auffallend, dass in wesentlichen Punkten "noch immer erheblicher Nachholbedarf [besteht]." Bemerkungen etwa der Art, dass die Editionslage unbefriedigend sei, dass "[h]insichtlich der Makrostruktur [= des 'Tristan'] weiterer Forschungsbedarf" bestehe oder dass die "Funktion des Gottfriedschen Erzählers [...] von der Forschung noch keineswegs genügend erforscht worden" sei, finden sich allenthalben; man möchte geradezu von leitmotivischen Feststellungen sprechen.
Die zahlreichen Hinweise auf Unsicheres, Umstrittenes und Desiderata haben ihre Ursache zunächst einmal ganz schlicht in der Tatsache, dass Gottfried von Straßburg vor circa 800 Jahren lebte und schrieb: Die Quellen fließen nicht gerade überreichlich. So hat, um nur dieses Detail zu nennen, die Forschung nach Gottfrieds Auftraggeber Dieterich, dessen Name sich aus dem Strophenakrostichon des "Tristan"-Prologs ergibt, zu keinem sicheren Ergebnis geführt. Als zweites kommt das Folgende hinzu: Nach einer positiven Bewertung des Romans durch die Frühromantik qualifizierten Autoritäten der sich etablierenden Germanistik den "Tristan" als unmoralisches Werk. Gottfrieds ausgesprochen modern zu nennendes Plädoyer für die Utopie einer reinen, die Konventionen sprengenden Liebe, die auf der Handlungsebene als "Ehebruchsminne" inszeniert wird, veranlasste Karl Lachmann 1820 zu dem oft zitierten Kommentar, es handle sich um "Gotteslästerung" und eine "weichliche unsittliche Erzählung" - Wertungen, die auch noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu lesen waren und die, so Tomasek, "unterschwellig sogar noch länger weitergewirkt haben [dürften]". Drittens: In seinem berühmten Literaturexkurs, der in einigen Versen polemisch auf Wolframs von Eschenbach "Parzival" bezogen scheint, kritisiert Gottfried Autoren, die ihren Werken einen tiutaere, einen "Ausdeuter", beigeben müssten, um sie verstehen zu können. Zwar kann ein unbefangener Leser den "Tristan" zunächst 'nur' als spannungsreichen, farbigen Ritterroman rezipieren. Bei näherem Zusehen erweist sich das Werk indes als höchst komplex, ein Forscher spricht geradezu von dem "Rauschmittel Komplexität." Seine Lektüre erfordert nicht minder als Wolframs "Parzival" eine erhebliche intellektuelle Anstrengung und ruft die tiutaere, die Interpreten - man möchte sagen: zwangsläufig - auf den Plan.
Thomas Mann, der übrigens ein Filmmanuskript zu Gottfrieds "Tristan" schrieb, faszinierte der "Beziehungszauber" der Musik Richard Wagners. "Beziehungszauber" - dieses Wort scheint wie geschaffen auch für Gottfrieds "Tristan", dessen Handlungsepisoden nicht einfach dem Prinzip der Aneinanderreihung folgen und dessen große und kleine Exkurse sowie Sentenzen keine handlungsfernen oder gar handlungsfremden Reflexionen darstellen. Vielmehr steht dies alles, wie Tomasek mit ständigem Bezug auf die Forschung eindringlich darlegt, in einem fein gesponnenen Beziehungsnetz und folgt einem subtilen Plan des Straßburger Autors.
Es ist im Rahmen dieser Rezension völlig unmöglich, die Vielfalt der Probleme zu erörtern, die Gottfrieds Dichtung dem Leser und Forscher bereitet hat und noch bereitet, und es wäre anmaßend, die hoch spezialisierte Forschung auf diesen wenigen Seiten nachzeichnen zu wollen. Deshalb seien lediglich zwei - allerdings zentrale - Aspekte herausgegriffen und etwas detaillierter vorgestellt: das Verhältnis von Handlungs- und Exkursebene und der Stil bzw. die literarische Technik des "Tristan".
Der "Tristan" zeichnet sich durch einen auch für die damalige Literatur ungewöhnlich agierenden auktorialen Erzähler aus, dessen ordnende Hand nicht nur in dem Arrangement der Handlung erkennbar wird, sondern der vor allem in den vier großen und etwa vierzig kleineren Exkursen sowie in zahlreichen Sentenzen etwa lebenspraktischer Art sein markantes Profil erhält. Hiermit ist dem Leser und Forscher das Problem aufgegeben, das Verhältnis von Handlungs- und Exkursebene zu bestimmen: Stehen sich Handlungs- und Exkursebene so gegenüber, dass diese jene relativiert oder gar dementiert? Oder verhält es sich umgekehrt: Ist die Handlungsebene das Entscheidende? Oder muss man von einem unaufhebbaren Antagonismus beider Ebenen ausgehen und eben diese Widersprüchlichkeit als das Signum des Gottfried'schen Romans betrachten? Tomasek belässt es hier (und an anderen Stellen) nicht dabei, die verschiedenen Forschungspositionen sammelnd zu registrieren und bloß zu referieren, sondern akzentuiert seine Auffassung oder erörtert Perspektiven, die weiter helfen könnten. Im Fall des Verhältnisses der Erzählebenen zueinander plädiert Tomasek dafür, dieses Verhältnis als dialogisch anzusehen, was allerdings noch genauer untersucht werden müsste.
An dieser und an ähnlichen Stellen wird erkennbar, dass nicht nur ein Forschungsbericht vorliegt, sondern dass der Autor zugleich auch seine Interpretation(en) formuliert oder seiner Ansicht nach weiterführende Interpretationsperspektiven in den Blick nimmt. Die postulierte Dialogizität ist nicht nur ein textinternes, sondern ebenso ein rezeptionssteuerndes Merkmal. In einem wohl noch höheren Maße wird der Dialog zwischen Autor und Werk durch die faszinierende sprachlich-stilistische Gestaltung gefördert: "Fortwährend stimuliert der Tristandichter mit rhetorischen Mitteln das Einfühlungsvermögen des einzelnen Rezipienten, ohne dabei den Textsinn ganz in dessen Belieben zu stellen - dies zu gewährleisten, ist eine der Aufgaben der Erzählerrolle [...]."
Will man das sprachlich exzeptionelle Kunstwerk "Tristan" kennen lernen, so ist der Leser auf den mittelhochdeutschen Text angewiesen; moderne Übersetzungen sind zwar hilfreich, können aber selbstverständlich nicht das 'Original' ersetzen. (Übrigens empfiehlt Tomasek, was einem Einwand entweder gegen die deutsche Sprache oder die Germanistik gleichkommt, die englische Übersetzung Arthur T. Hattos: Dessen "stilistische Meisterschaft" sei "weiterhin unübertroffen.") Über diese Qualität - den Stil und die literarische Technik - vermerkt Tomasek: "Nicht nur die Dichter des 13. und frühen 14. Jahrhunderts [...] , auch Forscher der Neuzeit würdigen Gottfrieds Roman als ein sprachliches 'Wunderwerk'[...]. Da sich vor allem ältere Forschungsarbeiten einer Gesamtanalyse von Gottfrieds Stil gewidmet haben [...], stellt eine aktuelle Zusammenschau und Bewertung der literarischen Technik Gottfrieds ein Desiderat dar."
In diesem Punkt, den "Tristan" als sprachlich-stilistisches 'Wunderwerk' zu bewerten, besteht also Konsens. Die Harmonie unter den Exegeten löst sich aber schnell auf, sofern man in Betracht zieht, welche Funktion(en) den stilistischen Mitteln zukommt: den in hoher Anzahl vorhandenen Wortpaaren, dem Antithesenreichtum und den Wortspielen, der Metaphorik und der Verwendung von Allegoresen, den häufigen Parallelismen und Chiasmen, den Alliterationen und Assonanzen etc. Der variations- und klangreichen, mit allen rhetorischen Finessen ausgestatteten Sprache kommt sicherlich ein ästhetischer "Eigenwert" zu. Dies zugestanden, widerspricht Tomasek der in der älteren Forschung (aber auch in neueren Beiträgen wieder) vertretenen Auffassung, dass Inhalt und Form divergierten. Dem stünden nicht nur Reflexionen des Erzählers über Sprachfragen entgegen, Reflexionen, die die "Konsonanz von Bezeichnung und Sache", von Form und Inhalt betonen, sondern auch Forschungsbeiträge, die das Ineinandergreifen von Ästhetik und Inhalt am Beispiel der Wortpaare, Antithesen und Wortspiele verdeutlichen.
Der Forschungsbericht weist kaum eine Seite, ja meist kaum einen Satz ohne ausführliche Hinweise auf die einschlägigen Arbeiten der Gottfried-Philologie auf. Hierbei sind die Nachweise lesbar in den Haupttext mittels Klammern eingefügt. Das ist zwar der Textsorte eines Forschungsberichtes gemäß, unterbricht aber den Lesefluss sehr häufig, was die Geduld des Lesers sehr strapaziert. Befriedigend ist dieses Problem kaum zu lösen. Fußnoten (oder Endnoten) wären nach Auffassung des Rezensenten aber dann wohl doch die bessere Lösung gewesen.
Die Monografie ist durch eine sachliche, die Forschungsbeiträge fair würdigende Diktion gekennzeichnet - ohne dass der Autor den Ton eines Besserwissers anschlägt (wie man ihn manchmal bei Texten dieser Art findet) oder in einen Relativismus verfällt, dem alles gleich wichtig gilt.
Insbesondere hält Tomasek nachdrücklich und völlig zu Recht an dem (in letzter Zeit wieder kritisch betrachteten) Postulat fest, dass es sich bei dem "Tristan" um ein "souverän konzipierte[s] Erzählwerk" handelt, das, welche Probleme es den Interpreten auch bereiten mag, einer integralen Deutung zugänglich sei. Manchmal, und das ist sehr sympathisch, tritt hinter dem professionellen Mediävisten der passionierte Leser hervor - so zum Beispiel, wenn Tomasek "Gottfried als denjenige[n] Tristanautor vor Richard Wagner [ansieht], der neben der intellektuellen in besonderem Maße die affektive Anteilnahme des Rezipienten zu erringen sucht", oder wenn er das Werk als "die anregendste, wenn nicht aufregendste Version aller Tristandichtungen" bewertet.
Der Forschungsbericht ist nicht nur ein Appell an die Gottfried-Philologen, denen, wie Tomasek zurückhaltend formuliert, "manche Anstrengungen" abzuverlangen sein werden, und nicht nur dem Studenten ein hervorragendes Kompendium, sondern regt auch den mediävistischen Nichtfachmann zu einer (erneuten) Lektüre dieses Gipfelwerkes der mittelhochdeutschen Literatur an.