Von Pilgervätern und Meuchelmördern
Nathaniel Philbricks schreibt in seinem Roman "Mayflower" über den ersten Sündenfall der nordamerikanischen Geschichte
Von Rolf-Bernhard Essig
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn den USA müssen jedes Jahr Millionen und Abermillionen dran glauben: Truthähne nämlich. An Thanksgiving treffen sich amerikanische Familien zum feierlichen Braten mit siebenerlei Fleisch. Selbst die Kinder kennen den Grund hierfür, denn in den meisten Schulen führen sie in einer Laienspielschar die wunderbare Rettung der Pilgerväter durch die freundlichen Indianer auf. Ureinwohner zeigen den Neuankömmlingen Maisanbaumethoden, die revanchieren sich wiederum mit Glasperlen und der Bibel, dann folgt ein amerikanisches Abendmahl auf Kosten der dummen Puten.
Der Gründungsmythos der USA ist lebendig, die Traditionen der Pilgerväter ebenfalls. Vielleicht liegt es auch daran, dass die meisten Amerikaner nur eine vage Vorstellung davon haben, was vor rund vierhundert Jahren wirklich geschah.
Nach der Lektüre von Nathaniel Philbricks Buch "Mayflower" müssten viele von ihnen erschrecken, denn der Historiker zeigt sehr genau, dass im 17. Jahrhundert die Basis für Amerikas beste und schlechteste Traditionen gelegt wurde. Dadurch allein lohnt die Lektüre des detailreichen Geschichtsbuchs.
Philbricks These lässt sich so zusammenfassen: Als die Pilgerväter im Jahr 1620 auf Cape Cod ankamen - erschöpft, dezimiert, hungrig - trafen sie auf den Indianerstamm der Pokanoket, der sich ebenfalls in einer schrecklichen Lage befand, hatte eine Seuche doch die meisten von ihnen getötet. Noch an Bord der "Mayflower" hatten die strenggläubigen puritanischen Pilgerväter mit den anderen Kolonisten auf dem Schiff einen Pakt geschlossen, um eine zivile, politische Körperschaft zu gründen, in der eine gewisse Gemeinschaftlichkeit und Toleranz herrschen sollte. Die Indianer wurden zwar nicht direkt aufgenommen, aber man schloss mit ihnen einen ähnlichen Pakt.
Beide Seiten profitierten davon: Die Kolonisten wären ohne die Maisvorräte und Ackerbautipps der Indianer rasch verhungert, die Pokanoket ohne die flintenbewehrten Verbündeten wohl ebenso rasch von einem rivalisierenden Stamm unterworfen worden. Die Not zwang zu Respekt, der Respekt überwand die Not.
Man siedelte nah beieinander, lernte voneinander, übernahm gegenseitig Gebräuche und Feste, lebte nicht streitfrei, löste aber gemeinsam Konflikte, und obwohl sich Indianer und Siedler fremd blieben, herrschte Frieden und Toleranz.
In der zweiten Generation wendete sich das Blatt, woran, wie Philbrick zeigt, weitgehend die Pilgerväter die Schuld trugen. Inzwischen waren Tausende Puritaner ins Land gekommen, das langsam rar zu werden begann. Die Dankbarkeit den Indianern gegenüber schwand, die Arroganz wuchs. Das steigerte die Wut der Ureinwohner kontinuierlich, und als es zu immer neuen Ungerechtigkeiten, Demütigungen und schließlich tödlichen Übergriffen kam, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis 1676 das Pulverfass Neuengland im so genannten "King-Philip-War" explodierte.
Mit Not siegten die Engländer in diesem grausamen Krieg, doch am Ende hatten, wie Philbrick genau belegt, beide Gruppen verloren. Der Appell an die USA von heute ist klar: Vernunft, Toleranz und Ethik. Die Alternative auch: Krieg, Verluste, Niedergang.
"Mayflower" liest sich über weite Strecken sehr spannend, dann aber verliert sich Philbrick in Einzelheiten, widmet sich jeder Familie und jedem Scharmützel. Da hätte man lieber noch mehr Konkretes über die Lebensumstände erfahren. Übersetzungsmängel, vereinzelt kitschige Stimmungsmalerei, spekulative Passagen vor allem die Indianer betreffend beeinträchtigen die Lektüre ebenfalls etwas. Gerade in puncto Quellenkritik erweist der Verlag dem Buch einen Bärendienst, indem er den Anmerkungsapparat und das Literaturverzeichnis strich (das Register zum Glück nicht) und die 80 Seiten nur auf Verlangen zuschickt.
Dennoch öffnet Philbricks Buch - besonders gelungen im ersten Teil und im ausführlichen Epilog - die Augen dafür, wie aus Pilgervätern Mörder und Sklavenhändler wurden, genauso wie für die Schönfärberei spezifisch amerikanischer Legendenbildung. Philbricks Verdienst ist der Beweis, dass es eine realistische Alternative zum Indianerkrieg gab - und dass eine solche vernünftige Handlungsweise auch in heutigen Konflikten notwendig wäre.