Ein Geheimnis bleibt gewahrt

Christina Viraghs betörend schöner Beschwörungsroman "Im April"

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alt ist die Vorstellung von besonderen Orten, an denen Unvorstellbares geschehen kann, machtvolle, geheiligte Plätze, Tabu-Stätten, solche, die Gutes oder Böses bewirken, je nachdem, wie man sich ihnen nähert. Im ungarischen Märchen, das eine der Figuren dieses selbst so besonderen Buches zitiert, hängt alles von der Anrede ab, ob sich ein alter Mann als fluch- oder segensreich erweist.

"Die Matte" heißt der Sonderort in Christina Viraghs "Im April", der erst unmerklich , doch dann mächtig bannend wirkt. Dieser manifestiert sich in einer schlichten Schweizer Wiese, auf der sich vier Geschichten ereignen und miteinander vermengen, denn Viragh breitet die Handlungen in der Manier der Multiplot-Filme à la "Short Cuts" oder "Magnolia" aus.

Eine Episode spielt 1415-17, eine weitere in den Zwanzigern des 20. Jahrhunderts, eine in den Sechzigern, die letzte Anfang unseres Jahrhunderts. Dieser überaus beziehungsreiche Roman beschreibt das Schicksal von drei Dutzend Figuren, darunter wie selbstverständlich auch ein paar verständige Tiere. Irritierend rasch wechselt die Autorin anfangs zwischen den Zeiten, bleibt lange vage, zögert - wie in einer Reihe von Vorhalten - den Moment der Deutlichkeit hinaus, schildert ausführlich Wetter, Flora, Fauna, Licht, geizt aber mit Namen. Später widmen sich vier lange Kapitel jeweils einer Zeit und einer Handlung, die letzten dagegen vermischen wieder Elementen der vier Geschichten.

Gemeinsam ist allen der magische Ort, der seltsame Schweizer Grasplatz in der Nähe von zwei Seen, wo sich im Laufe der Zeit Gebäude erheben, eine Villa, ein Bauernhaus, Mietshäuser, eine Wirtschaft. Viragh verbindet die Episoden aber auch auf andere Weise. So schildert sie hintereinander, was "im April" oder um 12 Uhr mittags im 15. Jahrhundert, in den Zwanzigern, in den Sechzigern und Anfang des 21. Jahrhunderts geschieht. Sie vermengt unentwegt die Zeiten und Orte: Die Pferde auf der Mittelalterwiese stehen an der Stelle, wo sich im 20. Jahrhundert die Häuser erheben. Es gibt außerdem Figuren, die in mehreren Episoden auftreten oder erwähnt werden. Diese quälen schließlich zu unterschiedlichen Zeiten die gleichen Ängste: Im späten Mittelalter fürchtet ein Schweizer Pächter die Rückkehr der Österreicher und das Jüngste Gericht, in den Sechzigern das ungarische Flüchtlingskind Mari den Einmarsch der Russen und die atomare Apokalypse.

Der plötzliche und häufige Wechsel zwischen den Figuren und Zeiten verwirrt, denn der Leser spürt, einem Geheimnis auf der Spur zu sein. Indem er anfangs im Nebel herumstochert, verliert er seine rationale Orientierung, öffnet sich für das Ungewohnte, gar das Wunderliche. Er beginnt immer mehr Zusammenhänge zu erahnen und geht dem Text unmerklich ins Garn.

Mari, die später Schriftstellerin wird und "die Matte" beschreibt, formuliert einmal, auf welche Weise man ein Buch wie "Im April" am besten lesen sollte: "Bevor man weiterliest, denkt sie, muß man alles genau sehen...".

Sich den Ort, die Figuren, das Licht von "Im April" genau vorzustellen, fällt nicht schwer, denn Viraghs scheinbar einfache, schön rhythmisierte Sprache präsentiert detailreich, sinnlich und plastisch Wiese, Wald und Wohnungen. Ihr klug eingesetzter Kenntnisreichtum verleiht ihrer Prosa Überzeugungskraft, ob sie die Gedanken eines LKW-Fahrers, die Nummern eines Wanderschaustellers oder die Pflanzenwelt der Wiese beschreibt. Besonders evident fasst sie die Gedanken der Figuren in Worte, gerade wenn sie mit Angstvisionen oder Paranoia kämpfen, wenn sie der Welt abhanden kommen oder in Wachträumen versinken.

Schuld an solchen Verrückungen scheint "die Matte" zu sein. Die Wiese war - so weiß es der Hobbyhistoriker Krähenbühl - früher eine Kultstätte für die Geister der Luft und der Erde; ein Ort für Abrechnungen. Der Leser erlebt, wie Menschen deren Zauber verfallen, seiner Bedrohlichkeit entkommen wollen, wie sie hier sterben, von selbst und von der Hand anderer, oder aber ein beinahe schon unerträglich mystisches Glück erleben.

Wiederum fallen einem - und das spricht für das bildstarke Erzählen der Autorin - Filme ein wie Peter Weirs "Picknick am Valentinstag" und vor allem Andrej Tarkowskijs "Stalker". Sie verdanken ihre faszinierend zermürbende Wirkung nicht zuletzt der Tatsache, dass sie, wie Viragh, ihr Geheimnis nicht banal wegrationalisieren, sondern bewahren. Bei Weir verschwinden Mädchen spurlos in einem Felslabyrinth, nur eines kehrt seltsam verändert zurück. Bei Tarkowskij leitet ein Führer, der Stalker, eine verbotene Expedition in die so genannte "Zone", in der alles geschehen kann. Ziel ist eine Kammer, in der angeblich Wünsche wahr werden.

Ob Tarkowskij, Weir, Viragh, der Weg ist in allen drei Fällen das Ziel. Viragh rüttelt den Leser immer wieder mit beunruhigenden Dialogen wach, fordert ihn mit Andeutungen, fängt ihn mit ihrer Satz- und Kompositionskunst ein, fesselt ihn mit einer ausgeklügelten Cliffhanger-Technik, die sie im Roman selbst thematisiert. Sie reizt die Vorstellungskraft, sie weckt die Neugierde und kitzelt das intellektuelle Vermögen. Dazu tischt sie immer wieder kleine Weißheiten auf: "Nicht jede Erinnerung muß purpurgeboren sein...".

Einmalig in der heutigen Literaturlandschaft ist Viraghs Fähigkeit des romantischen Erzählens. Das bezieht sich nicht nur auf thematische oder Motiv-Parallelen wie Doppelgänger, Automaten, Mittelalter, Naturmagie, Märchen, Auflösung des Individuums, sondern auch auf die Freude am Fragmentarischen, an der Arabeske, dem verschachtelten, in sich selbst verschlungenen Erzählen mit einer starken, faszinierend frei eingreifenden Erzählinstanz und den Figuren, die einer höheren Realität zu sein scheinen.

Dennoch überschreitet Viragh die Grenzen der Wahrscheinlichkeit nicht: Das Wunderbare spielt sich in den Figuren und im Leser selbst ab. Die reale Welt mit ihren alltäglichen Problemen wird nicht fortgezaubert, vielmehr ist ihre schmerzliche Begrenztheit überall fühlbar: Die beiden ungarischen Flüchtlinge leiden an der Fremde. Sexuelle Lust drängt nach Erfüllung, wandelt sich aber in Aggression. Paare driften auseinander. Nachbarn beäugen sich misstrauisch. Schadenfreude, Spott, Missgunst, Gier gibt es, Rassismus, Homophobie, Rufmord, Mord und Selbstmord.

Das Buch selbst entwickelt gleichwohl - wie die Matte - seltsame Energien. Es wird zu einem magischen Ort, der die Welt durchlässig macht für andere Kräfte. Es verwandelt sich in den Dämon, den unheimlichen "Mächtigen", den "Wüterich", das "Es", von dem im Roman erzählt wird, es treibe auf dem Gebiet der Matte sein Unwesen. Ein Wolf sei das vielleicht, mutmaßt man im Mittelalter, es ist aber als ein "lupus in fabula" der Geist der Erzählung.

Über direkte oder indirekte Zitate, öfter noch mittels die Parallelen in der Technik fügt sich "Im April" in die Reihe vieler Kunstwerken ein, man denke nur an Virginia Woolfs "Orlando". Mehr als ein Dejà-vu ist dann auch vorprogrammiert, und mit ihm tritt eine ambivalente Wirkung ein, wie sie Kunst überhaupt und speziell dieses Buch ausübt: "So ist diese Welt: voller unsichtbarer Wege, die wiederzuerkennen eine ungeheure Freude ist. Wer sich so freut, erholt sich davon nicht mehr."


Titelbild

Christina Viragh: Im April. Roman.
Ammann Verlag, Zürich 2006.
333 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3250600946
ISBN-13: 9783250600947

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