Die Blendung der Interpretation

Konrad Kirsch liest Elias Canetti und verliert sich dabei in der Masse der Bücher

Von Katrin A. SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katrin A. Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Elias Canettis Roman "Die Blendung" zieht seit dem 100. Geburtstag (siehe literaturkritik.de) des Nobelpreisträgers verstärkt das Interesse der Forschung auf sich. Wie Mitte der 1990er-Jahre versucht auch jetzt eine neue Generation von angehenden Literaturwissenschaftlern, den komplexen Roman zu entschlüsseln - und beschreitet dabei neue Wege. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Intertextualität der "Blendung".

Konrad Kirsch hat mit der nun veröffentlichten Dissertation eben diesen Weg eingeschlagen und versucht eine "hypertextuelle Lektüre" des Romans - und damit einhergehend, gewissermaßen als Propädeutikum, eine ausführliche Rekonstruktion der Poetik Canettis. Allerdings steht nicht ohne weiteres fest, ob Kirsch sein Ziel erreicht - oder ob man nicht eher mit Peter Kien, dem Protagonisten der "Blendung", sagen könnte: "Abhandlungen schossen wie Pilze aus dem Schreibtisch."

Schon bei einem ersten Aufschlagen des Buches und einem kursorischen Durchblättern fallen bereits einige Ungereimtheiten wie falsch geschriebenen Namen im Literaturverzeichnis (zum Beispiel Koçenina statt Košenina) auf. Dieser Eindruck der mangelnden Sorgfalt erhärtet sich nach eingehender Lektüre. So zitiert Konrad Kirsch Platon nicht nach Stephanus, sondern nach Seitenzahlen, und geht zudem von einem sehr oberflächlichen Verständnis der Ideenlehre aus, die er einzig aus dem Höhlengleichnis der "Politeia" rekonstruiert, ohne dabei auf deren weite Verzweigung innerhalb der Schriften Platons zu achten. Das lässt auf mangelnde Konsultation der einschlägigen Literatur zu Platon schließen. Bei anderen intertextuellen Bezügen sieht es nicht wesentlich besser aus.

Kirsch geht weiterhin von einer hermetischen Verschränkung von Canettis Texten aus. Diese Lesart ist seit Irene Booses Vorschlag, "Die Blendung" als "ironische Parabel über den ontologischen Abgrund" zu lesen, überholt. Der Roman des jungen Elias Canetti wird nicht länger als vermeintlich empirischer Beweis für das erst 20 Jahre danach niedergeschriebene theoretische Werk "Masse und Macht" gelesen, wie es die Interpretatoren in den späten 70er und 80er-Jahren zunächst versucht haben.

Sven Hanuschek weist in seiner Biografie zu Elias Canetti ausdrücklich auf die Problematik der Verquickung des theoretischen mit dem literarischen Werk Canettis hin. Kirsch verbindet beides aber dennoch, ohne die Problematik zu reflektieren, und überrascht mit solch abschließenden Feststellungen wie der, dass der Protagonist der "Blendung", Peter Kien, mit seinem Flammentod "aus dem Gefängnis der Philosophie aus[bricht] und [...] in die Freiheit der Masse ein[geht]." Diese Oppositionsachse ist nicht ohne Weiteres verständlich, und Kirsch untermauert seine These auch nicht mit einer erklärenden Interpretation.

Der erste, wenn auch ungleich kürzere Teil von "Die Masse der Bücher" behandelt Canettis Poetik und geht ebenfalls davon aus, dass "sich der 'frühe Canetti' nicht substantiell vom 'späten' unterscheiden lässt." Kirsch legt ausführlich dar, dass andere dies nicht explizit annehmen würden, er aber eben trotz der Gefahr der Harmonisierung dennoch davon ausgehen wolle, da sonst sein Ansatz nicht verwirklichbar wäre. Dabei bleibt fraglich, welche Absicht sich dahinter verbirgt, solch ein riskantes Experiment zu unternehmen. Der Begriff 'Masse' scheint bei Kirsch zu einem alles erklärenden Zauberwort befördert worden zu sein.

Die Auswahl der Texte, deren Bezug zum Roman hergestellt werden soll, vermittelt insgesamt ebenfalls einen Charakter von Willkürlichkeit. Zwar erhebt Konrad Kirsch keinen Anspruch auf Vollständigkeit der herangezogenen "Hypotexte", die Auswahl erscheint jedoch unsystematisch. Neben philosophischen Texten von Platon, Rousseau, Hobbes oder Bergson, probiert Kirsch motivische Literatur aus verschiedenen religiösen Systemen oder auch weltgeschichtliche Bezüge wie den zum Ersten Weltkrieg sowie Bezüge zur Psychoanalyse aus. So weit sind das in der Forschung so oder ähnlich bereits systematisch thematisierte Fragestellungen (zum Beispiel ist Carolina Schuttis Konzentration auf die Bibelstellen in der "Blendung" solch eine systematische Analyse). Am gewagtesten ist jedoch Kirschs Versuch, einen Bezug zum 1933 gedrehten Film "King Kong" herzustellen. Kirsch rechtfertigt die Parallelisierung, indem er darauf verweist, dass sowohl die Macher von "King Kong" als auch Elias Canetti den gleichen Dokumentarfilm über Affen gekannt hätten, was letzterer Manfred Durzak gegenüber in einem Interview geäußert habe. Da Canettis Roman jedoch bereits 1931 weitestgehend abgeschlossen war, ist es äußerst heikel, ihn mit einem zwei Jahre danach fertig gestellten Film in Verbindung zu bringen. Da es fast keine Manuskripte zur "Blendung" gibt, sondern nur Canettis Selbstaussage, dass die Arbeit am Roman 1931 beendet war, ist es zudem doppelt schwierig, derart unsichere Thesen aufzustellen.

Neben den unorganisiert aneinandergereihten Kapiteln zu den intertextuellen Bezügen tauchen auch immer wieder andere zweifelhafte Sujets auf. So der Versuch, die "Blendung" als negativen Bildungsroman zu kategorisieren. Auch dies vermittelt einen Eindruck, als habe sich die Interpretation in der Fülle an Themen verloren. Sie hat sich in der Masse der Bücher verzettelt.

Gelungen mutet an Kirschs Analyse die ausführliche methodologische Reflexion sowie der reiche Fundus an Textstellen, die er heranzieht, an. Da diese allerdings nicht miteinander verbunden sind, kann die Menge an vermeintlichen Textbelegen und Parallelstellen nicht über die Leere der Interpretation hinwegtäuschen. Kirschs Vorgehensweise ist dabei immer 'Motiv x findet sich auch in Werk y'. Bei allem Fleiß, der den über 500 Seiten zu Grunde liegen mag, entsteht dennoch der Eindruck einer geblendeten Interpretation der "Blendung", die weder sich noch ihre Leser ernst nimmt.

Einwandfrei an Konrad Kirschs Buch ist letztendlich das handliche Format, das einem die oft ermüdende Lektüre wenigstens nicht noch mit Nackenschmerzen vergällt.


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Konrad Kirsch: Die Masse der Bücher. Eine hypertextuelle Lektüre von Elias Canettis Poetik und seines Romans Die Blendung.
Konrad Kirsch Verlag, Sulzbach 2006.
530 Seiten, 33,00 EUR.
ISBN-10: 3929844222

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