Kampf dem Büffelgenick

Über 70 Jahre nach seiner Entstehung erscheint Jean Amérys Jugendroman "Die Schiffbrüchigen"

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer hatte er sich gewünscht, als Schriftsteller Anerkennung zu finden. Dass nun, knapp 30 Jahre nach Jean Amérys Tod, sein erster Roman "Die Schiffbrüchigen" (1935) doch noch erscheint, grenzt an ein Wunder. Während sein Autor ins Exil fliehen musste, deportiert wurde und schließlich Auschwitz überlebte, überstand das 392-seitige Typoskript die NS-Zeit im Bestand der so genannten Wiener Manuskriptvermittlung, Berggasse 16.

Hans Mayer, wie der als Katholik erzogene Améry damals noch hieß, galt auch im klerikalfaschistischen Österreich vor dem "Anschluss" an das "Dritte Reich" immer mehr als "der Jude", als der er sich gar nicht fühlte. Er war gerade einmal 22, als er beschloss, darüber einen Roman zu schreiben. "Hätte man den über 60jährigen Jean Améry, Autor von Lefeu oder der Abbruch, nach seiner Berufung gefragt, er hätte geantwortet: Deutscher Dichter. Und das hätte nicht weniger für den 22jährigen Schriftsteller gegolten", bemerkt die Herausgeberin der Jean-Améry-Werkausgabe Irene Heidelberger-Leonard in ihrem Nachwort zu Band Eins. Dort wird der lange verschollene Debütroman parallel zur - für ein größeres Publikum gedachten - Einzelveröffentlichung auch noch einmal zusammen mit "Lefeu oder der Abbruch" (1974) und einem ausführlicheren editorischen Anhang publiziert.

"Die Schiffbrüchigen" ist ein autobiografisch grundiertes Dokument einer beginnenden, erzwungenen Ausgrenzung seines Autors aus der einst so geschätzten Kultur, in deren Literaturkosmos er sich bis zuletzt so gerne eingegliedert wissen, zu der er gehören und in der er reüssieren wollte. Bis zu seinem Tod war Améry dieser Erfolg nicht vergönnt: "Erst angesichts der unveröffentlichten Schriften wird dem heutigen Leser augenfällig, dass Améry sich, von der Feindseligkeit des Feuilletons der siebziger Jahre abgesehen, primär aufgrund der historischen Umstände als verhinderter Erzähler definiert", stellt Heidelberger-Leonard in ihrem Nachwort zum ersten Band der Werkausgabe klar.

Amérys Roman schildert den kontinuierlichen sozialen Abstieg der Alter Ego-Figur Eugen Althagers. "Erst langsam und schwierig brach das Wissen in ihm auf, dass ihn die Zeit mit allen anderen seiner Rasse verfemt hatte", berichtet der Erzähler schon auf den ersten Seiten über den Protagonisten. Und es verblüfft, dass hier bereits eine Erkenntnis formuliert wird, die in Amérys politischen Essays der 1960er- und 1970er-Jahre besonders wichtig werden sollte: "Seine Schuld war es wohl, daß er nicht wusste, worin seine Zugehörigkeit zu jener Rasse bestand. Nichts galten ihm ihre Werke, Riten, unwesentlich erschien ihm die Urkunde seiner Geburt [...]. Nichts band ihn an das Volk, zu dem er nun gehören musste". Niemals habe er "bedacht, dass es auch ihn einmal hineinziehen könnte, zwingen in ein Kollektiv." Hier klingt an, was Améry 1966 im Rückblick auf seine Auschwitz-Erlebnisse wie folgt fasste und damit auch für den Hans Mayer von 1934 und 1935 sprach, der die "Nürnberger Gesetze" zu vergegenwärtigen hatte: "Jude zu sein, das hieß für mich von Anfang an, ein Toter auf Urlaub zu sein, ein zu Ermordender, der nur durch Zufall noch nicht dort war, wohin er rechtens gehörte und dabei ist es in vielen Varianten [...] bis heute geblieben."

Amérys Protagonist Althager ist zwar einsam, aber nicht allein. Er bildet das erzählerische Zentrum einer kleinen Gruppe gescheiterter Figuren, von denen die wichtigsten seine große Liebe Agathe und sein Jugendfreund Heinrich Hessl sind. Der allwissende Erzähler blickt allen abwechselnd über die Schulter, um den Leser mit ihren Gedanken, Ängsten und Hoffnungen vertraut zu machen.

Der Ton des Romans lässt dabei schnell erkennen, dass ihn ein noch junger Mann geschrieben hat: Obwohl die Sätze kurz sind, neigen sie hier und da zum Pathos. Manche der philosophischen Exkurse wirken - obwohl sie von einer staunenswerten Bildung des adoleszenten Autors zeugen - aufgesetzt. Das Lob der ländlichen Heimat wird bei Améry allerdings schon als reaktionäre Ideologie durchschaut. Ein abgelegenes Dorf mit dem klingenden Namen Kirchleiten steht in seinem Text nur noch für eine unwiederbringlich verlorene Kindheit, vergleichbar etwa Theodor W. Adornos Jugenderinnerung an das unterfränkische Amorbach. Das unpolitische Idyll der Stadtflucht werde im Roman nur noch als "irrationale Mystifizierung ad absurdum geführt", bemerkt Irene Heidelberger-Leonard in ihrer konzisen Améry-Biografie (2004).

Ernüchternder ist da schon das Frauenbild. Der vollkommen mittellose und in einem Kellerzimmer vegetierende Eugen Althager verliert Agathe, als sie von ihm schwanger wird und die unvermeidliche Abtreibung nicht bezahlen kann. Der wohlhabende Ingenieur Ernst Höllmer begehrt das Mädchen nämlich schon seit Längerem und bietet an, ihr die 200 Schillinge zu zahlen, wenn sie einmal mit ihm schlafe. Die junge Frau ringt mit sich, geht aber schließlich auf den Handel ein, als auch ihr Freund in seiner Hilflosigkeit nichts gegen diesen einzigen Ausweg einzuwenden weiß. Obwohl Agathe Höllmer nicht liebt, weckt die Prostitution ungeahnte Lüste in ihr und läutet das Ende der Beziehung zu Eugen ein.

Zusammen mit einigen anderen Frauenfiguren, die Améry um seinen Protagonisten gruppiert und aus deren Perspektive er derartige Konflikte einfühlsam zu schildern versucht, entsteht der Eindruck, als solle hier so etwas wie ein weibliches Naturstreben dokumentiert werden, im Mann stets ein Sicherheit bietendes Alphatier zu suchen. Andererseits wird gerade in solchen Perspektivwechseln auch Amérys frühes Talent sichtbar, seinen Figuren Leben einzuhauchen. So musste selbst Robert Musil, dem der junge Schriftsteller sein Manuskript auf Thomas Manns Empfehlung hin hoffnungsfroh geschickt hatte, einräumen, "dass dieser Roman recht begabt sei, wenn er auch gewisse Unreifen zeige".

Wenn man sich nun klar macht, was im Leben Amérys auf das folgte, was er schon 1935 mit solcher Klarsicht und Resignation zu einem Kunstwerk zu verdichten verstand, so kann es einem tatsächlich "kalt über den Rücken laufen", wie der Autor selbst 1978 - kurz vor seinem Freitod - bei der Wiederlektüre seines Frühwerks notierte. Auch Eugen Althager beginnt ab einem bestimmten Zeitpunkt der Handlung, den ihm altbekannten und als tröstlich empfundenen Gedanken an den Selbstmord wiederaufzunehmen. Der Roman schildert den sozialen und emotionalen Ruin der Figur mit unerbittlicher Konsequenz: Es ist, als besteige man als Leser zusammen mit dem Protagonisten einen vergitterten Aufzug, mit dem man langsam hinunter ins Dunkel fahre, in Richtung eines unausweichlichen Verderbens.

Als der vereinsamte Althager so weit heruntergekommen ist, dass er sich aus purer Langeweile mit der Prostituierten Mimi einlässt, nimmt das Verhängnis konkretere Gestalt an. Althager wird in einem Racheakt des Zuhälters, mit dem er am Spieltisch eines Kaffeehauses zusammen mit anderen Lemuren seine Tage verhockt, von bestellten Schlägern vertrimmt. Schaudernd liest man, wie ihm dabei die Schulter ausgekugelt wird: Ist es doch unmöglich, sich die Szene vorzustellen, ohne an die SS-Folter zu denken, die Améry später selbst erleiden musste und in "Die Tortur" (1966) so erschütternd beschreibt. Es ist, als habe er bereits vor dem Krieg jene Brechung seines Ichs in seinem Roman vorweggenommen. Auch Heidelberger-Leonard nennt diese Vision in ihrem Werkausgaben-Nachwort "geradezu gespenstisch". Im selben Band findet sich auch erstmals Amérys niederschmetternder autobiografischer Bericht "Die Festung Derloven" (1945), ein Pseudonym für die in Belgien gelegene NS-Folterburg Breendonk, in der der verhaftete Widerständler Améry verhört und dabei der Tortur unterworfen wurde. Hinterher versuchte er, sich mit einem rostigen Metallstück die Pulsadern aufzuschneiden, um in weiteren Verhören nicht auch noch seine Frau zu verraten.

Heidelberger-Leonard arbeitet die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen literarischen Bewältigungsversuchen dieser unbeschreiblichen Erfahrung heraus, um einen Bogen zurückzuschlagen zur Grundsituation Amérys, die sich bereits in "Die Schiffbrüchigen" geschildert findet. Es ist ein Außenseitererlebnis, das innerhalb der verschiedenen antisemitischen Gesellschaften in variablen Graden der Radikalität wiederkehrte - zuallererst im, aber auch nach dem Weltkrieg, der den Erlebnissen der 30er-Jahre folgen sollte. Daraus folgert die Herausgeberin, nunmehr werde die "herkömmliche Améry-Rezeption vom Roman Die Schiffbrüchigen widerlegt. Die These gilt es zu entkräften, dass es einen Hans Mayer vor Auschwitz und einen Jean Améry nach Auschwitz gibt - eine Legende, an der Améry im übrigen mitgeschrieben hat. In Wahrheit ist der späte Améry im frühen schon enthalten, was auch bedeutet, dass sein Freitod nicht in direkter Linie auf Auschwitz zurückzuführen ist." Eine Schlussfolgerung, die so wohl niemand mehr letztgültig 'beweisen' können wird - zumal der Autor, dem hier eine zweifelhafte Selbstinszenierung unterstellt wird, tot ist.

Geradezu unheimlich wirkt es, wenn man Althagers Schicksal als prophetische Parabel auf die Judenvernichtung liest, die in Österreich mit Hitlers Einmarsch (1938) ihren endgültigen Lauf zu nehmen begann. Sieht Althager seinem unvermeidlichen Absturz ins Nichts doch mit hilfloser Passivität entgegen. Was sollte er auch tun? Als er endlich einmal aufbegehrt und sich entschließt, sich gegen eine der alltäglichen Erniedrigungen zu wehren, erscheint die Entscheidung als in geradezu absurder Weise aussichtslos und besiegelt sein Ende.

Ein bulliger Burschenschafter rempelt den Verletzten in einer Tram an. Althager beschimpft den streitsüchtigen Studenten als "uckermärkische[n] Stierschädel" und "vertiertes Büffelgenick". Die prompte Rückfrage des Beleidigten, ob er "Arier" sei, bejaht Althager, um endlich einmal gegen die Fremdbestimmung seiner "Rasse" revoltieren zu können. Es kommt zu einem Duell, bei dem ihm der massige Nationalist mit seinem Säbel den Schädel spaltet.

Ein stark emotionalisierendes Romanende also, das man, läse man das Buch ohne ein Wissen um seine historische Bedeutung, als unverhältnismäßigen Märtyrer-Abgang abtun könnte - auch wenn die Herausgeberin im Nachwort der Einzelausgabe erläutern, der Protagonist wähle hier wie sein Schöpfer den "Weg größten Widerstands". Man möchte sich wünschen, dass dieses "subversive Gegenmodell eines Bildungsromans" (Heidelberger-Leonard) als vielschichtiges Zeitbild kontextualisiert und ernst genommen wird - als Text, der noch einmal an die k.u.k-Tradition von Josef Roths "Radetzkymarsch" (1932) erinnert, aber gleichzeitig schon um den endgültigen Untergang der Welt weiß, die er verabschiedet.

Amérys posthum nachgereichtem Debüt sind endlich einmal mehr Leser zu wünschen, als die wenigen, die für den bisherigen Minuskäuferrekord der entstehenden Klett-Cotta-Werkausgabe stehen (laut der "Worstseller"-Liste "Literarischer Ladenhüter 2006" der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" verkaufte sich Amérys "Jenseits von Schuld und Sühne" letztes Jahr gerade einmal 76 mal). Das Zeug dazu hat es.


Titelbild

Jean Améry: Die Schiffbrüchigen. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2007.
328 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783608936636

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Titelbild

Jean Améry: Die Schiffbrüchigen / Lefeu oder Der Abbruch. Werke, Band 1.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2007.
600 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783608935615

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