Angedichtetes Vagabundenleben

György Konrád denkt im "Buch Kalligaro" darüber nach, welche Rolle die Weltliteratur spielt

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer bislang noch kein Buch des ungarischen Schriftstellers György Konrád gelesen hat, den macht dieser Prosaband zunächst vielleicht ratlos. Zumindest wird seine Geduld durch ein Sammelsurium von scheinbar zusammenhanglosen Essays, Betrachtungen, Erinnerungen, Gedankensplittern, Momentaufnahmen, durch Schilderungen banaler und alltäglicher Szenen und Beobachtungen auf eine harte Probe gestellt. Aber es lohnt sich, dran zu bleiben. Denn hat man sich erst einmal eingelesen, kommt man nicht mehr so leicht davon los.

Wer aber ist Kalligaro, der Titelträger des Buches? Ein Flaneur, ein Betrachter, ein Liebhaber der Stadt Budapest, ein Freund bestimmter Cafés und ein Mann der Frauen, in dessen Leben historische Abläufe wie Krieg, Judenverfolgung, Diktatur und die Wende zur Demokratie eine wichtige Rolle gespielt haben - genau wie bei György Konrád, dem Kalligaro auf's Haar gleicht und den der Verfasser nur deshalb erfunden hat, "um in der dritten Person von einem Menschen sprechen zu können, mit dem ich schon seit siebzig Jahren zusammenlebe und dem ich gern ein Vagabundenleben andichten würde." Allerdings wird dieses Vagabundenleben nicht geradlinig oder chronologisch, sondern mosaikartig und sprunghaft enthüllt. Dem Leser obliegt es dann, alles zu ordnen und in die richtige Reihenfolge zu bringen.

Der 1933 geborene Konrád alias Kalligaro, Sohn jüdischer Eltern, erzählt, dass 1943 alles noch leidlich zu ertragen gewesen sei, dann aber sei das Unheil hereingebrochen. Doch er selbst sei davon gekommen. Sein Vater, ein wohlhabender Kaufmann aus der Provinz, kaufte 1947 nach der Heimkehr aus der Deportation eine Zweizimmerwohnung in der Budapester Innenstadt. Konrád beziehungsweise Kalligaro wurde 1953 von der Universität gewiesen. Später war er ein Handelnder, ein Dissident, Stadtplaner, Politiker, Dichter, Wortführer und nach dem Zusammenbruch des Ostblocks Präsident verschiedener Akademien.

Der Autor plaudert über die Frauen, mit denen er verheiratet war, über seine Reisen nach Berlin, New York und Tokio Anfang der frühen achtziger Jahre. Er deutet an, wie es vor zwanzig Jahren in Ungarn aussah und vermittelt eine leise Ahnung vom Innenleben geschlossener Gesellschaften im Sozialismus. Für ihn, merkt er an, habe es sich nicht gehört, die Kampfarena fluchtartig zu verlassen, um von außen zum eigenen Nutzen das Wort zu ergreifen. Das sei keine große Kunst. 1989 gab er dann die Rolle des Verlierers auf. Zwischendurch übt er leise Kritik an den Freunden im Westen, die allerlei Dinge für wichtig halten. Kreuz und quer geht der Schriftsteller durch die Zeiten und Themen.

Im September 2004 besucht er mit seinem Freund Lásló Rajk Auschwitz, wo mehr als ein Drittel der Getöteten ungarische Juden waren, darunter viele seiner Schulkameraden. Dieser Besuch weckt Fragen über Fragen, wie etwa die: "Was für Probleme haben Christen mit dem Volk der Bibel gehabt?"- und was für Probleme die Deutschen des Buchdrucks mit dem Volk der Schrift?

In mehreren Kapiteln malt der Autor das Grauen von Auschwitz aus. Er denkt über Gott nach und kommt zu der Schlussfolgerung, dass es gerade im Hinblick auf den Holocaust "keinerlei höheren Willen gegeben hat, dass unsere menschlichen Angelegenheiten nicht mit irgendeinem göttlichen Plan verbunden werden müssen [...]. Es war das absolute Verbrechen. Mit vielen Mittätern, Komplizen und helfenden Zuschauern."

Dann wieder geht es um die Literatur. Erlaubt sie doch Aufatmen und Genuss zugleich. Auch taugt das Schreiben dazu, vor sich selber zu flüchten und ist nichts anderes als angespannter Lebenswille. Der Verfasser preist den Vorteil schweigsamen Müßiggangs und hedonistischen Nichtstuns. Er philosophiert über die Vorzüge der Großstadt, spart nicht mit Szenen aus Ehe-und Familienleben, entwirft Stimmungsbilder und ergeht sich in mehr oder weniger eigenwilligen und tiefsinnigen Betrachtungen. Er teilt seine Tag- und Nachtträume mit, lässt uns in sein Inneres sehen, verrät, wie ihm zuweilen zumute ist, macht also aus seinen Vorlieben und Abneigungen keinen Hehl.

Ab und an sinnt er über das Alter nach und über das Sterben. Angesichts der dann zu erwartenden Beschwerden sei es nicht ganz leicht, zu glauben, "dass wir dem Licht entgegengehen". Wenn aber die Seele den Körper verlassen wolle, dann solle sie in Gottes Namen gehen. Das Gejammer über das Alter empfindet der Autor als kindischen Undank von Menschen, die ein hohes Alter erreicht haben, denn "wer nur einen einzigen Tag lebt, auch für den lohnt es; diese vierundzwanzig Stunden rechtfertigen das Abenteuer, das mit Weinen beginnt und einem röchelndem Atemzug endet, durch den der Mensch seine Seele aushaucht."

Gelegentlich tauchen Fragen auf. Wo gibt es Gerechtigkeit? Oben? Unten? Nirgendwo? Was ist Wahrheit? Und worin besteht das Geheimnis des Lebens?

Für Kalligaro ist das Leben eher gut. Er vermutet sogar, dass er eines Tages den selbststeuernden Mechanismus seines Lebens durchschauen kann, weil er das Gefühl hat, "dass es kein Gericht gibt, das dafür zuständig wäre, ihn in den Lichthafen hinüberzulassen, dem alle Sehnsüchte und Religionen zustreben." Es gibt "nur das Jammertal, in dem auch gelacht werden darf. Das Bedürfnis nach einer in die Unendlichkeit strebenden Grenzüberschreitung ist unlöslich mit dem Menschen verbunden, der Bekanntschaft macht mit seiner Sterblichkeit." Die Welt sei gut gelungen. Er gratuliere dem Schöpfer.

Alles nimmt Konrád alias Kalligaro gründlich unter die Lupe: seine Täuschungen, Zynismen und vergängliche Inbrunst, vermischt mit kleinen Lebensweisheiten. "Die Norm ist nicht das Martyrium, noch nicht einmal das Leiden, sondern die Selbstbeherrschung."

Er selbst sei kein eingefleischter, dichterischer Neinsager mit eisernem Willen, seine Neugier sei mehr darauf gerichtet, die Verhältnisse zu verstehen als sie zerstörerisch zu verändern. Für Aktivismus sei er weder begabt noch verlange es ihn danach. Ihm liege mehr die Haltung des Abwägens als die des Kampfes.

Dazwischen schiebt er das Bekenntnis ein, wüsste er, dass dies sein letzter Tag sei, würde er vielleicht dennoch ein Schreibgerät in die Hand nehmen und Papier vor sich hinlegen.

In einem Beitrag gesteht er, er sei kein Atheist, sondern habe das Empfinden, dass dieses Ganze Gott sei und wir winzige Flöhe in seinem Pelz. Religionen "geben dem Leben eine Form, bestimmen die Kleiderordnung." Träger der Transzendenz sei die Weltliteratur, "denn sie integriert die Religionen, beinhaltet, trägt, betrachtet sie und lacht sie aus."

Für das Glücklichsein weiß er ein einfaches Rezept. Das Glück gibt es, befindet er, dafür seien wir geboren, das sei unsere Berufung. Wir müssten uns nur nicht so viel ärgern. Gleichwohl entpuppt sich der Autor mitunter auch als skeptischer Moralist. Die letzten Texte sind gespickt mit Altersweisheiten. Auch wenn man sich die Zusammenhänge der einzelnen Themen anfangs mühsam zusammen suchen muss und diese sich wie die Struktur des Ganzen nur langsam nach und nach erschließen, so stellt sich Konráds Prosaband doch als Fundgrube mit überraschenden Einsichten heraus, die zum Vergleich mit dem eigenen Standpunkt einladen, ja geradezu herausfordern.


Titelbild

György Konrád: Das Buch Kalligaro. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Paetzke, Hans H.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
293 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783518418833

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