Poetische Berichterstattung
Cornelia Zetzsches Anthologie "Zwischen den Welten" entmystifiziert Indien
Von Marius Hulpe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas vergangene Jahr wird wohl als das Jahr in die (Literatur-)Geschichte eingehen, in dem Indien als Kulturland endgültig zum weltweiten Durchbruch in kulturindustrieller Hinsicht verholfen wurde. Und dies auch unabhängig von Buchmessenpräsenz und Mediengebimmel, schielt doch eine breite Weltöffentlichkeit auf Indien, seine schier unerschöpfliche Lust auf Wachstum, seinen bunten Reigen an Innovationen sowie die Fähigkeit, geduldig mit diesen Ressourcen umzugehen. Es ist ein Land im Boom, im Rausch, ein Land, in dem das Internet noch einen wirklichen Wirtschaftsfaktor darstellt, wie im Europa der 90er-Jahre, und noch kein überbauliches Anhängsel, keine Kopie- und Nachahmungskultur wie hierzulande.
Manch einer wird es - vielleicht gerade aufgrund dieser Tatsachen - kaum mehr hören können, das monatelange Raunen scheint Indien in vielerlei Hinsicht etwas vom alten Mythos genommen zu haben. Und doch - das belegt eine Publikation des Insel Verlages, die natürlich schon zur letzten Frankfurter Buchmesse erschien, auf der Indien Gastland war - doch und trotz allem lohnt es sich, die wenigen echten Kunststückchen und Zauberblüten einer längst vom Westen vereinnahmten Lebenswelt zu entdecken: die Antholgie "Zwischen den Welten", mit dem in diesem Falle sehr zutreffenden Untertitel "Geschichten aus dem modernen Indien", zeichnet ein bis ins Detail gehendes Bild einer sich allmählich selbst zersetzenden, da gegenüber äußeren Einflüssen wehrlosen Urfassade. Indien ist ein Land, lebendig wie kein anderes, und doch, insgeheim, still und einsam wie seine über eine Milliarde Bewohner. "Einsamkeit", so wird auch im leider zu langen Vorwort aufgezeigt, ist eines der Grundmotive, nicht nur im Leben, sondern auch unter den indischen Schriftstellern.
Das Vorwort gerät angesichts der Machtkämpfe und internen Konstellationen der indischen Gegenwartsliteratur beinah zu einem kulturpolitischen Essay. Das zweite Vorwort von K. Satchidanandan ist daran gemessen tatsächlich ein Essay, der die Spannung zwischen "Modernisierung und Demokratisierung" betont sowie den Versuch der Literatur, "mit der postkolonialen Situation fertig zu werden", in dieser Hinsicht erhellt er einiges.
Die Vielfalt der Geschichten hingegen lässt sich kaum raffen. Als zutreffende Beschreibung könnten drei Sätze einer der Geschichten dienen: "Möglich ist alles. Alles ist möglich. Aber nichts geschieht." Letzterer lässt sich weniger auf die Dynamik des Buches beziehen, das reich an Überraschungen ist, als vielmehr auf die stagnative Situation in einem Land, in dem noch der Einflussreichste keine Veränderung bewirken könnte, wenn er denn wollte. Alles wird mitgerissen, ohne Kontrolle, genauso wie der staunende Leser.
Ein wenig nervig an diesem Buch ist die schon in den Vorworten beginnende und sich quer durch die im Buch gestreuten Biografien ziehende Exklusivitätshaltung, für die die Autoren natürlich nichts können, dafür aber die Herausgeberin.
Autoren werden als kleine Götzen mystifiziert, überall wird von "höchsten Preisen und Auszeichnungen des Landes", allzu ungebrochen von "Weltgewandtheit" und von den "Unberührbaren" gesprochen, was schon im Klappentext beginnt. Das raubt dem Leser schließlich jeden Glauben an eine letzte Spur von esoterischer Unschuld, von fernöstlicher Gelassenheit. Gottseidank werden diese überkandidelten Phrasen von überwiegend fabelhaften, eindringlichen und bewegenden Texten gedeckt und gerettet, so dass eine Spur der Urbewunderung, die erst für Indien hat interessieren lassen, im Leseakt zurückgewonnen wird.
Denn das Buch hat es, abgesehen von den ausschweifenden Einleitungen und biografischen Einstreuungen verdient, von vorne bis hinten gelesen zu werden. Sein Volumen sollte dabei keine Abschreckung sein, zumal es auch wirklich dieses Umfangs bedarf, um die literarische Vielfalt des Landes, die seiner unzähligen Sprachen und Subkulturen, auch nur annähernd zu decken.
Sich diese vielen großen Würfe entgehen zu lassen, wäre ein Versäumnis für jeden, der die Kultur und insbesondere die Literatur dieses Landes entdecken möchte. "Zwischen den Welten" ist ein Buch von großer Notwendigkeit.