"Wir leben nicht in einem kritischen Zeitalter"
Ein Interview mit Claus-Steffen Mahnkopf
Von Christoph Schmitt-Maaß
Mir kam es so vor, als ob Ihr Buch eine negative Dialektik der Kritischen Theorie liefert, in der Form, dass - ich überspitze das jetzt einmal - die negative Wahrnehmung von Kulturverfall sich als Lesemaske vor das Geschriebene, vor Ihren eigentlichen Anspruch stellt, der ja eigentlich doch sehr konstruktiv ist. Diese Negativmaske nimmt Ihrem Buch einiges von seinem begeisterndem Schwung.
Mahnkopf: Die Frage ist erstens, ob ein Künstler, ein Musiktheoretiker, ein Musikphilosoph oder jemand, der eine Kritische Theorie schreibt, gute Laune verbreiten soll. Ich kann zunächst auf dem Gebiet der Musik nur eine Bestandsaufnahme leisten. Und diese Bestandaufnahme besteht unter anderem darin, dass es bislang keine Kritische Theorie der Musik gab - obwohl die Kritische Theorie extrem prominent ist. Sie gilt als eine der großen philosophischen Richtungen der Neuzeit, die bis zu Marx oder Kant zurückreicht, und obwohl Adorno als Musikphilosoph nicht nur wirkte, sondern für die Musikwelt Fixpunkt, Abwehrobjekt oder auch schlechtes Gewissen ist, gibt es keine Kritische Theorie der Musik.
Zweitens muss ich zunächst gewisse Vorleistungen geben, die ein anderer Autor, hätte er zum Beispiel eine Kritische Theorie der Literatur geschrieben, schon in Anspruch nehmen könnte. Das kann ich nicht. Deswegen muss ich mit sehr vielen Desillusionierungen anfangen. Das erschreckt den Leser, der auf einem anderen Gebiet (der Literatur, der Architektur, der Pädagogik, der Medienwelt) längst schon ein viel kritischeres Bewusstsein besitzt. Die Musik - vor allem die Kunstmusik, die so genannte klassische Musik - gilt immer noch als ein lieblich-romantischer Ort, in dem die Genies sich verwirklichen und ansonsten die Menschheit beglücken mit einer wunderbaren Musik. Wenn man mit einer soziologischen Analyse, mit einer Bestandsaufname all der Defizite anfängt, dann mag das den Leser irritieren. Diese Defizite kommen aber genau daher, dass es bislang keinen Diskurs auf der Höhe der Zeit gab.
Das heißt, der Leser ist doppelt schockiert: einmal durch das, was ich kritisiere (zum Beispiel die schwierigen Arbeitsbedingungen eines musikalischen Feuilletons). Das hat nichts Negativistisches oder Defätistisches, begründet auch noch keine negative Dialektik, sondern es ist ein Tatbestand. Zum anderen ist der Leser dadurch schockiert, dass ich überhaupt ein kritisches Denken intendiere. Und auch das ist, trotz Adorno und trotz der Tatsache, dass moderne Musik zumeist kritisch ist, nicht selbstverständlich.
Ich sehe die Besonderheit Ihres Buches und Ihrer Person im gegenwärtigen Musikbetrieb darin, dass Sie zweihändig arbeiten können: Sie haben auf der einen Seite die philosophische Vorbildung durch Habermas, auf der anderen Seite sind Sie Komponist, hervorragender Vertreter des Komplexismus in Deutschland. Das führt aber wiederum dazu, dass Sie - wie die Kritik an Ihrem 1998 erschienenen Buch "Kritik der neuen Musik" auch schon monierte - die Analyse des gegenwärtigen Musikbetriebs, die Sie leisten, darauf hinausläuft, dass Sie Lösungen anbieten. Und diese Lösung - und diesen Eindruck vermitteln beide Bücher - ist für Sie der Komplexismus. Alles andere ist mehr oder weniger einzuteilen in Formen von Konservativismus bis hin zu Stockhausens Kryptofaschismus. Das befremdet insofern, als dass - wenn man das Vorkapitel mit der messianischen Sendung liest und auf Ihr eigenes Thema appliziert - sich die Frage stellt, ob Sie das intendieren, ob das so richtig angekommen ist bei mir und anderen Kritikern und ob das nicht einer breiteren Rezeption Ihres (musikalischen) Werkes entgegensteht.
Mahnkopf: Also, Sie bringen jetzt sehr viele Dinge zusammen und damit leider durcheinander. Zunächst einmal: Gesellschaftskritik wird bei mir in verschiedenen Teilbereichen geübt, zum Beispiel in der Musikwissenschaft, der Aufführungspraxis, dem Festivalsystem, der Repräsentation in den Massenmedien, der Musikkritik und auch in bezug auf das Theater. Dort biete ich gewisse Lösungsvorschläge an, die fast trivial sind und dem, gesunden Menschenverstand' entsprechen. So muss das Festivalsystem die Autonomie des Komponisten ernst nehmen, das heißt der Komponist steht im Vordergrund und nicht der Manager. Das ist heute umgekehrt, man muss es ganz deutlich sagen. Die Musikpädagogik hat in den vergangenen dreißig Jahren einen gigantischen Diskurs entwickelt, und gleichzeitig verliert die musikalisch-musische Ausbildung in Deutschland an Niveau. Das sagt jeder, das weiß auch jeder. Also muss man daraus Konsequenzen ziehen. Oder was die Aufführungspraxis betrifft: es kann nicht sein, dass Deutschland die meisten und bestbezahlten Orchester hat, diese aber im Grund unglaublich konservativ sind und nicht in der Gegenwart leben. Das sind ganz einfache Dinge, um die zu verstehen, dazu muss man auch nicht Adorno gewesen sein. Das ist die eine Seite.
Die andere Seite ist, dass ich Adornos Musikphilosophie nicht nur als eine kritische Musiksoziologie oder als eine ganz bestimmte Komponisten-Ästhetik lese, sondern dass ich sage, dass - und zwar aufgrund seiner Philosophie - Adorno im Sinne eines jüdischen Denkens gewissermaßen ein messianisches Projekt verfolgte, das neuerdings durch das Spätwerk von Jacques Derrida wieder aktualisiert worden ist. Es ist dabei nicht übertrieben utopistisch, denn wir wollen ja, dass irgendwann die ganze Menschheit im Sinne des Kantischen Ewigen Friedens lebt oder in einer weltumspannenden Demokratie oder in einer Natur, die klimatisch erträglich ist. Das heißt, die messianische Struktur, die ich anspreche, ist nicht so religiös abseitig, dass man nicht sinnvoll in einer fast pragmatischen Weise darüber reden könnte. Man muss sie nun mit der Musik zusammendenken
Gleichzeitig hat Adorno aber auch musikphilosophisch in "Vers une musique informelle" ein Messianisches anvisiert, also eine Musik, die vollkommen frei ist. Man muss sich fragen: was kann das sein, wie ist das möglich, beziehungsweise wo ist bislang die Musik eben nicht frei. Dabei ist das Messianische hier so radikal zu denken, dass es mit einem jüdischen Bilderverbot belegt werden muss - das heißt ich kann gar nicht (und ich will und werde es auch nicht) sagen, was das dann für eine Art von Musik sei, die die befreite Menschheit erwartet. Ich habe ganz am Ende in meinen Buch geschrieben, wir hätten zwar jetzt die "Ode an die Freude" aus Beethovens Neunter Symphonie als Europahymne, aber ob die Menschheit - wenn sie denn dereinst brüderlich und schwesterlich vereint ist - klassische Musik als Hymne wählt oder irgendetwas aus der Folklore, das möchte ich nicht mutmaßen.
Und es gibt noch ein Drittes: den Vorwurf, den Komplexismus zu propagieren. Ich habe, und das ist nur ein Teilbereich meines Buches, auch die Neue Musik verhandelt, indem ich einen Interpretationsrahmen gebe, in dem ich frage, welche der momentan prominenten modernistischen (also nicht-postmodernen) Positionen am zukunftsfähigsten sind. Zukunftsfähig heißt: Anschlussfähig, heißt interessant für den Übergang zu einer Zweiten Moderne, heißt vielleicht auch universell und internationalistisch, insofern, als bestimmte nationale Einseitigkeiten verabschiedet werden. So ist der Ansatz von Helmut Lachenmann sehr deutsch, und der spektralistische Ansatz von Gérard Grisey sehr französisch. Sie gehen zurück auf die Trennung von Impressionismus und Expressionismus im Anschluss an Wagner. Wenn wir uns allerdings auf eine Weltgesellschaft zubewegen - und die Neue-Musik-Szene ist im wesentlichen bereits international -, dann kann es sein, dass ganz unterschiedliche Denkrichtungen (man denke an Xenakis, der Grieche ist, aber in Paris lebte und dort wirkte) sich etwa mit einem spektralistischen Ansatz oder mit einem Ansatz des Minimalismus verbindet oder verbinden kann. Und meine Fürsprache für den Komplexismus ist nicht exklusiv und auch nicht identisch mit dem messianischen Projekt und vor allen Dingen: es ist nicht die Lösung für alle anderen Teildisziplinen, wie die Pädagogik oder die Aufführungspraxis.
Dass ich mich dafür stark gemacht habe, liegt einfach daran, dass er die einzige Position ist, die das noch nötig hat - alle anderen Positionen der Neuen Musik, so von Cage, Feldman, Nono, Rihm, Lachenmann, Sciarrino, sind längst angekommen und eigentlich ein Teil der großen Familie. Nur der Komplexismus im weitesten Sinne ist nicht verstanden. Brian Ferneyhough hat vor kurzem den Ernst-von-Siemens-Musikpreis bekommen, sozusagen den Nobelpreis der Musik, und man merkt plötzlich, dass die Leute aufwachen und sagen: Da ist jemand, den wir nicht verstehen, weil bestimmte Phänomene einfach zu anspruchsvoll sind. Ich erinnere nur an eine Konferenz der Frankfurter Universität über Wittgenstein - da brüllte ein Löwe, aber man verstand bis dato Wittgenstein nicht. Man muss sich also mit dem Unvertrauten, dem Unverstandenen beschäftigen. Es gehört zum parteilichen Blick einer Kritischen Theorie, einen Punkt herauszugreifen, der sozusagen "nicht korrekt" ist, um an ihm dann ein bestimmtes Szenario durchzudeklinieren. Wenn ich es an Nono, Lachenmann oder Cage gemacht hätte, hätte niemand etwas moniert, sondern alle wären zufrieden gewesen.
Kommen wir noch einmal auf die heutzutage fehlende jüdische Intelligenz zurück, die eine internationale intellektuell hochstehende Anschlussfähigkeit in Deutschland schmerzlich vermissen lässt, wie Sie in Ihrem Buch schreiben. Ist das in Einklang zu bringen mit der Tatsache, dass kein Vertreter des gegenwärtigen Komplexismus (Ferneyhough, Hübler) jüdische Wurzeln hat?
Mahnkopf: Zum ganzen Komplex Judentum zunächst einmal vorab: Sie dürfen nicht vergessen, dass das, was ich schreibe, sehr riskant ist. Ich habe mir sehr viel Mühe gegeben und auch sehr viel im Vorfeld diskutiert. Unter anderem mit Juden und vor allem mit Ausländern - denn diese Frage ist vor allem eine deutsche, eine europäische Problematik. Zunächst einmal hat der Kulturbruch, der eben nicht nur in der Shoah oder im Genozid liegt, die europäische Kultur so verändert wie zuletzt vielleicht die französische Revolution.
Vor allem intellektuell?
Mahnkopf: Nicht nur intellektuell, auch emotional. Das hat etwas mit den Lebensbefindlichkeiten zu tun: die Teilung Europas, der Kalte Krieg, die Wiedervereinigung, der Aufstieg Amerikas haben damit etwas zu tun. Und das, obwohl Europa hinsichtlich der Kultur, der Philosophie, des modernen kritischen Denkens doch eigentlich in so einen Atavismus wie die Hitler-Barbarei nicht hätte zurückfallen dürfen - es ist aber dennoch passiert. Ich würde schon sagen, man muss sich einmal überlegen, was es bedeuten würde, wenn wir in Deutschland, wo mehrere Millionen Muslime leben, mehrere Millionen Juden hätten. Man muss sich einmal Berlin ohne den Holocaust vorstellen: die Blüte des geistigen Lebens, ein geistiger Austausch wie in der Weimarer Republik - hier und heute in Deutschland, in Italien, Frankreich, Österreich, Ungarn. Das heißt, hier ist zunächst einmal ein Verlust, eine Abwesenheit, ein Mangel zu beklagen.
Das Interessante aber am Judentum - ich versuchte das in meinen Buch fruchtbar zu machen - ist zweierlei: einmal existiert ein fundamental anderer Gottesbegriff, und daraus resultierend ein anderer Begriff von Kritik und geistiger Tätigkeit. Es gibt im Judentum keinen Gegensatz zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Intellekt und Lebensfreude. Das ist in Katholizismus und Protestantismus anders. Und von dieser Art der befreienden Synthesis könnte man sehr viel lernen, mal abgesehen davon, dass die Leistungsfähigkeit jüdischer Intellektueller und jüdischer Künstler, die Pionierhaftigkeit - denken Sie nur an Schönberg oder Libeskind - durchaus etwas ist, wessen wir bedürfen.
Und zweitens, soziologisch betrachtet, zeichnet sich das Judentum vor allem in der großbürgerlichen europäischen Zeit, also sagen wir ab 1850, dadurch aus, dass ihm eine Innen- und eine Außenperspektive gleichzeitig eignet. Das heißt, die Juden waren ausgestoßen und gleichzeitig Teil der Gesellschaft. Sie fühlten sich in Deutschland als Deutsche und waren es auch, aber zugleich waren sie natürlich dem Antisemitismus ausgesetzt. Sie mussten sich nicht nur mehr anstrengen als andere, sondern sie hatten eine ganz bestimmte Sicht von außen auf innerliche Befindlichkeiten.
Freud sagt an einer Stelle ganz klar, dass er diesem Umstand am meisten verdanke, nämlich den klaren Blick. Die Frage ist heute - in einer Gesellschaft, die immer vergesellschafteter ist, in der es sozusagen kein Außen mehr gibt im Sinne von Luhmann, in der alles, was passiert, sofort beobachtet wird (nämlich durch Kommunikationsmedien) -, wie eine Außenperspektive überhaupt möglich ist. Ich glaube nämlich, dass eine Außenperspektive notwendig ist für Kreativität überhaupt. Es ist kein Wunder, dass die interessanteren Komponisten eher aus der Provinz, aus der Peripherie oder aus anderen Ländern kommen. So sehe ich im Judentum auf der einen Seite ein kritisches, universalistisches Potential, was mit einem bestimmten Gottesbegriff zusammenhängt, und auf der anderen Seite das Modell einer besonderen Existenzweise, die Kreativität und sozusagen das Außergewöhnliche, das Pionierhafte, sozusagen das Un-Mögliche im Sinne von Derrida begünstigt.
Es gibt von Adorno den berühmten und schwierig zu verstehenden Satz, dass man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben könne. Man müsste eigentlich auch sagen, man könne nach Auschwitz keine Musik mehr komponieren. Das hat Adorno natürlich nicht gesagt. Die Frage ist allerdings: wieso reagierte die Musik nicht auf den Holocaust? Kunst - fast trivial zu sagen - muss reagieren auf das, was geschah; also auch unter anderem auf den Holocaust oder auf den Zweiten Weltkrieg. Interessanter Weise ist das kaum geschehen unter den Avantgarde-Komponisten. Und schon gar nicht in der Zeit der 1950er- und 1960er-Jahre. Der Einzige, der das getan hat, war Luigi Nono. Das finde ich ebenso interessant wie bezeichnend: Wieso macht das ausgerechnet ein Italiener? Wir wissen alles über die Shoah, können das Unbegreifliche allerorten aktualisieren, aber warum besinnt sich darauf kein deutscher Komponist? Warum spielt der Holocaust-Diskurs überall (im Kino, im Fernsehen, in der Literatur, in der Philosophie) eine Rolle, erreicht aber die ganze Kompositionsszene nicht. Darauf hinzuweisen, ist auch Aufgabe einer Kritischen Theorie der Musik.
Wenn das Fehlen einer avancierten jüdischen Intelligenz der Grund ist für einen verspäteten musikalischen Avantgardismus ist (die 50er-Jahre sind kompositorisch erst einmal konservativ; Schönberg wird erst Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre wieder rezipiert in Deutschland), wenn jüdische Komponisten vor 1933 in die USA oder nach England abgewandert sind und dort bleiben, heute aber wieder rezipiert werden (beispielsweise Berthold Goldschmidt), wieso ist dann deren Musik alles andere als gesellschaftskritisch oder avantgardistisch?
Mahnkopf: Ich glaube, hier muss man vorsichtig sein: es gibt in der neuen avantgardistischen Musik einige Komponisten mit jüdischem Hintergrund, etwa György Kurtág, György Ligeti, Mauricio Kagel. Und interessanterweise repräsentieren Ligeti und Kagel eher das, worüber sich Wagner mit Blick auf die Juden immer aufgeregt hat, nämlich eine etwas oberflächliche Virtuosität, mit der man den Weltmarkt erobern möchte. Bei Kurtág hingegen findet hingegen genau das statt, was man eigentlich erwarten sollte: eine trauernde Musik, eine Musik, die so klingt, als ob der Komponist sagen wollte "ich weiß nicht mehr, wie ich weiterleben soll." Nun ist freilich die Musik von Kurtág von allen Optionen der Neuen Musik sozusagen die konservativste. Aber auch eine, die hervorragend funktioniert, und deswegen liebe ich sie so. Aber man müsste diese Trauereinstellung, die einen in die eigene Identität hineinführt, so dass man fast nicht mehr weitermachen kann, sozusagen auf einen fortgeschritteneren Materialstand übertragen.
Vergessen wir nicht Morton Feldman, der selber einmal gesagt hat, dass man im Sinne von George Steiner nach dem, was geschah, eigentlich nicht mehr Kunst machen könne, aber trotzdem Möglichkeiten angeboten hat. Feldman fand als New Yorker Jude, der nicht unmittelbar betroffen war, zu einer Lösung, die ich gleichfalls als eine trauernde Musik empfinde, als eine Musik des Jenseits, "beyond history", wie Feldman sagt, also jenseits des normalen Lebens. Das ist eine Position, die ich als künstlerisch hochstehend, sehr ehrenwert, sehr interessant betrachte - allerdings kann sie keine Lösung für die Zukunft sein, denn sie ist einerseits ein hochindividueller Personalstil, andererseits brauchen wir in der Zukunft auch Musik, die ein anderes Lebensgefühl ausdrückt als die von Feldman. Weil das Körperliche, das Emotionale, das Intellektuelle der unterschiedlichen Weltkulturen dann doch mehr bieten als bloße Reduktion - die Musik von Feldman lebt aus der Reduktion heraus, wie überhaupt alle diese reduktionistischen Modelle in der Ersten Moderne durchgespielt worden und nicht in die Zukunft der Musik führen.
Was mich fasziniert hat, war Ihr stringentes Argumentieren gegen einen Postmodernismus der Beliebigkeit, wie er mit Verspätung die deutsche Debatte der 90er Jahre prägte, gleichzeitig machen Sie sich stark für eine von ihren Gegnern maßgeblich so genannte Dekonstruktion, die Sie als Grundlage für ein kompositorisches Arbeiten aus dem Geist der Kritischen Theorie heraus sehen. Ich sehe aber gar keinen Widerspruch zwischen Postmodernismus auf der einen, Dekonstruktion auf der anderen Seite. Natürlich haben wir in der Postmoderne des Verdikt der Beliebigkeit, das man zurückweisen kann oder muss, aber auch dekonstruktive Verfahren sind aus meiner Sicht nur eine Steigerung des Modernismus, kein Antimodernismus. Ich habe deshalb Ihre Angriffe gegen die Postmoderne nicht verstanden.
Mahnkopf: Es gibt mindestens so viele Postmoderne- wie Dekonstruktivismus-Definitionen wie Menschen, die sie vertreten. Deshalb muss man folgendes auseinander halten: Wenn - wie heute allgemein üblich - die französische Philosophie der letzten dreißig Jahre und unter anderem die Dekonstruktion als postmodern bezeichnet werden, weil diese Epoche eben postmodern genannt wird, dann habe ich nichts gegen Postmoderne. Aber das ist nur eine Definitionssache und diesem Fall eine Tautologie.
Was ich unter Postmoderne verstehe, ist dreierlei: sie ist eine Epoche, ein philosophisches Programm und ein Katalog der Konsequenzen für die Kunst. Als Epoche ist die Postmoderne ein Zustand nach dem Scheitern der politischen Avantgarde im Sinne einer politischen Weltrevolution. Ob sie vom russischen Imperium oder von Studenten 1968 hätte ausgehen können, sei dahingestellt. Danach, wenn klar geworden war, dass diese Revolution, dieser emphatische Schritt im Sinne von Marcuse nicht stattfinden konnte, ging man dazu über, den Zustand, den man vorfand (die erreichten Freiheiten, Liberalitäten und die Demokratie), sozusagen als die Lösung des Problems oder sogar als die Einlösung dessen, was man eigentlich erreichen wollte, zu deklarieren. Und das ist falsch, es ist eine Ideologie. Stattdessen hätte man sagen müssen: wir haben das, was wir wollten, nicht erreicht. Man hätte trauern müssen, wie Lyotard umgekehrt die klassische Moderne beschrieb. Wer behauptet, das hätten wir heute nicht mehr nötig, erliegt einer Selbsttäuschung, vor allem der Intellektuellen und der Linken: wir haben heute das Trauern erst recht nötig. Das ist die eine Seite.
Die zweite Seite der Postmoderne ist das philosophische Programm, wonach bestimmte Kategorien, die für mich und für die Moderne zentral sind, so Fortschritt, Freiheit, Emanzipation, Ideologiekritik, einfach suspendiert werden. Es wird behauptet, sie hätten sich aufgelöst, weil geschichtliche Zeit sich wie in einem Schmelzvorgang aufgelöst habe. Das ist hochproblematisch, und ich glaube, dass es sich philosophisch nicht durchhalten lässt. Gerade am späten Derrida kann man sehen, dass er - trotz seiner Versuche, die modernen Gedankenfragmente, soweit es nur geht, zu verflüssigen - immer noch im Rahmen oder unter der Schutzhülle dessen, was einmal Metaphysik hieß, bleibt. Wenn diese wegfällt, dann gelangen wir zu einer reinen Heterogenität, die Deleuze und Guattari in "Mille Plateaux" durchgespielt haben. Das ist alles ganz faszinierend, ich glaube nur nicht, dass es in unserem Gesellschaftssystem funktioniert. Es ist im übrigen interessant, dass ein Spätwerk von Deleuze - "Was ist Philosophie" - sich liest wie eine klassische Einführung in die große Philosophie mit den ganz großen Themen. Natürlich geht es dort um die Wahrheit, um die Richtigkeit, um die Normativität - also um die ganz klassischen drei Grundfragen der Philosophie.
Drittens: Die Auswirkungen der Postmoderne auf die Kunst. Ich bin inzwischen bereit zuzugestehen, dass die Postmoderne auch eine Wahrheit hat, nämlich die, dass mit der Losung "anything goes" Freiheitsräume erobert und die Orthodoxien der klassischen Avantgarde aufgelöst wurden. Das ist offensichtlich durchaus notwendig gewesen. Aber es gibt auch ein regressiv-reaktionäres Moment der Postmoderne, vor allem in der Neuen Musik: man glaubte, dass man wieder so komponieren könne wie früher, also tonal, verständlich, publikumsorientiert. Hans-Jürgen von Bose proklamierte ganz deutlich, dass er wieder zur Schönheit, zum Wohlklang zurückwolle. Das ist die eine Seite. Die andere Seite war in der Neuen Musik die Grundstruktur des Stücks. Man hat gesagt, dass es gar nicht mehr darum geht, als Künstler einen Personalstil zu entwickeln, sondern es reiche, dass man sich an verschiedenen Schauplätzen bediene und ein Crossover anstrebe. Das halte ich künstlerisch und musikalisch für wenig ergiebig. Ich glaube, dass große Meisterwerke auf dieser Grundlage nicht entstehen können. Es sei denn, man inszeniert das so raffiniert und bringt das so auf den Punkt (indem man eine Collage komponiert), dass das Ganze ironisch wirkt bis hin zur Ausbreitung eines absurden Welttheaters. Und eine solche Musik ist schon entstanden, und zwar vor dem Aufbruch der Postmoderne, nämlich die "Sinfonia" von Luciano Berio von 1968. Ligeti hat Ähnliches in "Le Grand Macabre" versucht. Die Frage ist nur: wollen wir in Zukunft nur noch Kunst, die ironisch ist, oder gibt es nicht einen anderen Bereich unserer menschlichen Existenz, wo es um Wahrheitsfragen oder Authentizitätsfragen geht, um ernsthafte und wirkliche Probleme. Insofern sehe ich die Postmoderne der 1980er-Jahre als eine prosperierende Dekadenz, die spätestens dann zusammenbricht, wenn die materiellen Ressourcen nicht mehr vorhanden sind, und diese sind heute nicht mehr. Die Postmoderne hat daher mehr Probleme hinterlassen, als sie lösen konnte.
Und aus diesem Verständnis von Postmoderne heraus versuchen Sie, die Dekonstruktion als Mittel der Kritischen Theorie zu nutzen...
Mahnkopf: Ich finde, dass die Dekonstruktion einer der interessantesten philosophischen Ansätze zu einer Kritischen Theorie der Gesellschaft nach dem Tode von Adorno und Derrida ist. Habermas hat keine Kritische Theorie der Gesellschaft geschrieben, da er sich auf die Gesellschaft so gut wie nie eingelassen hat. Es gibt praktisch keine Bücher über die Gesellschaft von Habermas. Es gibt soziologische Theorien und sehr viele politische Kommentare, aber auf die Gesellschaft selber, in der wir leben, hat er sich im Grunde nicht eingelassen. Das geschah in der ganzen Zeit in Frankreich. Es gibt noch eine weitere Position, die in meinem Buch eine ganz entscheidende Rolle spielt: Luhmann, der sehr stark von Derrida beeinflusst ist. Luhmann hebt unter anderem darauf ab, dass das zweiwertige logische Denken nicht genug ist, um die Welt zu beschreiben. Und das muss man ernst nehmen.
Und die Konsequenzen aus diesen Überlegungen für eine Kritische Theorie der Musik müssen lauten?
Mahnkopf: Nein, diese Frage ist zu voreilig, zu schnell gestellt. Die Frage ist: zunächst einmal brauchen wir eine gesellschaftliche Bestandsaufnahme. Ich finde es sehr interessant, dass man - liest man Luhmanns "Realität der Massenmedien" - eine Diagnose vorfindet, viel nüchterner und viel schwärzer als die Analyse Adornos. Luhmann konstatiert, dass sowieso alles gelaufen sei, "was wollt ihr noch, was erwartet ihr eigentlich vom Fernsehen, es ist doch vollkommen klar, dass es eine Inszenierung ist und keine Realität". Man kann nun Luhmann zynisch lesen oder aber ihn noch einmal selbst kritisch wenden und sagen: ich kann von Luhmanns Analysen für eine Kritik lernen.
Ein grundlegendes Problem scheint mir, dass Gegenwartsmusik - ähnlich wie noch vor 20, 30 Jahren Gegenwartsliteratur - nicht verhandlungsfähig für Wissenschaft scheint. Sie thematisieren das ja auch in Ihrem Buch, es muss sich - schreiben Sie - die Musikwissenschaft auch für ihre Gegenwart, für die gegenwärtige Musik interessieren. Das Problem dabei ist natürlich der Distanzverlust, den aber Ihre Kritische Theorie überwinden helfen möchte.
Mahnkopf: Das Problem der Musikwissenschaft ist viel gravierender: Selbst wenn man sich in der Literaturwissenschaft von der Literatur der letzten 20 Jahre distanziert, sich nicht auf sie einlässt, benutzt man doch wenigstens relativ neue Paradigmen des Denkens. Das findet aber in der Musikwissenschaft nicht statt. Ich beklage also nicht primär, dass die Musikwissenschaft uns Komponisten ignoriert, sondern dass sie den ganzen Zeitgeist ignoriert. In der Musikwissenschaft existieren Denkstrukturen, die aus dem 19. Jahrhundert oder vielleicht (im besten Falle) noch aus der Schönberg-Schule kommen. Eigentlich müsste sie zum Beispiel den Dekonstruktivismus für ihre Disziplin adaptieren und dann anwenden auf alles Mögliche: auf chinesische Musik, Musik des Mittelalters oder die Beatles. Das scheint jedoch völlig undenkbar. Die Musikwissenschaft ist per definitionem weltfremd, nicht nur gegenwartsfremd. Ein kluger Musikwissenschaftler hat mir gesprächsweise einmal gestanden, das liege daran, dass, wer wirklich genial begabt sei in der Musik, kein Wissenschaftler, sondern Künstler werde. Dem würde ich zustimmen.
Musikwissenschaft ist ja auch eine Ausweichmöglichkeit für jene, die die Aufnahmeprüfung nicht geschafft haben...
Mahnkopf: Man muss die Seite der Kreativität betrachten: Adorno ist ein Glücksfall. Er hätte auch Komponist werden können. Aber aus irgendeinem Grunde waren die philosophische Begabung und das philosophische Feuer stärker. Glenn Gould wollte immer Schriftsteller werden. Zum Glück ist er Pianist geworden. Er hat auch komponiert, aber seine Kompositionen sind nicht wirklich bedeutend...
...wobei seine Essays brillant sind...
Mahnkopf: Ja, aber man stelle sich vor, er hätte die gesamte Genialität des Klavierspiels auf die Literatur übertragen: dann wäre er wahrscheinlich ein zweiter James Joyce geworden.
Und Adorno als Komponist?
Mahnkopf: ...spielt keine Rolle.
Woran liegt's?
Mahnkopf: Das ist kein Vorwurf an Adorno. Aber warum soll ich seine Kompositionen in meinem Buch erwähnen? Es gibt sehr viele Komponisten, die ich nicht thematisiere, weil es kein Buch über Komponisten ist. Das wäre ein großes Missverständnis. Gerade in der Neuen-Musik-Szene regen sich nicht wenige darüber auf, dass ich nicht ihre Lieblingskomponisten erwähne - ich habe eine Kritische Theorie der Musik geschrieben, und nicht eine Kritische Theorie der Neuen Musik. Es ist auch keine Kritische Theorie als Antwort auf Adorno. Vielmehr nehme ich Adorno nur als Ausgangspunkt. Weil ich kein akademisches Buch, keine Einführung in den Adorno'schen Ansatz verfassen wollte. Was man im Übrigen im Vorfeld von mir erwartet hatte.
Ihr Buch folgt in der Tat einem sehr eigenen Weg und nimmt Adorno nur zum Anlass. Auch der Leser merkt sehr schnell, dass es Ihnen nicht auf eine Erschließung oder Rekonstruktion der Adorno'schen Kritischen Theorie der Musik ankommt, sondern dass Sie Ihre eigenen Ideen entwickeln.
Mahnkopf: Ich glaube, dass man auch heute nicht einige wenige Namen monopolisieren sollte, aber ein kritisch denkender Mensch kann es sich nicht erlauben, nicht Luhmann zu lesen. Obwohl Luhmann natürlich Kritische Theoretiker immer ablehnte - aber das ist sein Problem. Und ich denke auch, dass man Derrida lesen muss, so schwer das auch ist. Wer hat Derrida denn wirklich und zur Gänze verstanden? Das scheint mir vollkommen unmöglich angesichts dieser immensen Text- und Gedankenfülle. Man muss sich mit ihr auseinandersetzen, so wie man sich mit Heidegger oder mit Nietzsche auseinandersetzen muss.
Es sind Herausforderungen, an denen man einerseits etwas lernen, andererseits etwas konstruieren kann mit bestimmten zentralen Begriffen oder Gedankenfiguren oder Formen der Aufarbeitung. Ich musste mich natürlich auch zu Habermas äußern, weil Habermas in Deutschland die Kritische Theorie zu sein beansprucht und in dieser Weise wahrgenommen wird. Ich musste mich mit Benjamin beschäftigen, unter anderem deshalb, weil Benjamin nach wie vor aktuell ist und überhaupt erst in den letzten Jahrzehnten das Licht der Welt erblickt hat, unter anderem auch aus editorischen Gründen. Was ich allerdings nicht getan habe - was mir auch vorgeworfen worden ist: es gibt kein Kapitel zur populären Musik, auch kein wirklich politisches Kapitel. All das soll in einem Nachfolgebuch ergänzt werden.
Ohne das Beispiel überstrapazieren zu wollen, aber Adorno ist der einzige, der im selben Maße Philosoph wie Komponist zu sein beanspruchen kann, wenngleich er nach 1945 kaum zum Komponieren zurückgefunden hat. Ohne Sie jetzt, als Komponisten, mit Adorno, dem Philosophen, vergleichen zu wollen, stammt von Ihnen wie von Adorno der bisher am weitesten gehende Versuch in Hinblick einer geschlossenen Theorie der Musik.
Mahnkopf: Meine Theorie ist nicht geschlossen, das ist erst einmal ein Steinbruch. Das Buch steht auch im Kontext meiner früheren Veröffentlichungen. Als Künstler schadet mir meine deutliche Positionierung vermutlich. Wenn ich mich nur auf meine eigene Musik konzentrierte, auf das Komponieren, dann hätten die Leute mit mir weniger Probleme, weil sie erstens wüssten, wie sie mich einschätzen sollten, und sie sich zweitens nicht solche Kritik anhören müssten - und wer will das schon? Wir leben nicht in einem kritischen Zeitalter, wir leben letztendlich in einem der Ökonomie verpflichteten affirmativen Zeitalter.
Meine vollkommen spekulative Frage, noch einmal, wäre: kann man Adornos Kompositionen von vor 1945 auf eine zu erwartende Adorno'sche Kritische Theorie applizieren, sehen Sie da Vorgriffe für ein Komponieren, dass in der unmittelbaren Nachriegszeit doch unglaublich konservativ und tonal war?
Mahnkopf: Ich glaube, dass Adorno als Komponist nicht so bedeutend war, dass man das, was er gemacht hat, überhaupt vergleichen kann mit seiner philosophischen Leistung. Man kann höchstens bestimmte Faktoren hochrechnen. Es gibt einen Variationssatz mit zwei Themen, die vollkommen verquer sind, und man hat versucht, daraus einen Differenz-Begriff zu entwickeln, der dialektisch zu Schönberg stünde. Doch derlei lohnt sich meines Erachtens nicht.
Sie haben in ihrem Buch auch einen vehementen Aufruf geschrieben, sich der nächsten Komponistengeneration anzunehmen und sie nicht zu zerreiben zwischen marktwirtschaftlichen Ansprüchen, sondern sie ideell zu fördern. Können Sie als Professor für Komposition in Leipzig Ihre in der "Kritischen Theorie der Musik" reklamierten Ziele verwirklichen?
Mahnkopf: Ich kann meinen Studenten gegenüber nur versuchen, meinen Beitrag dazu zu leisten, dass sie freie Künstler werden. Und zur Freiheit gehört vor allem eine Selbstreflexion einerseits und eine Orientierung darüber, was existiert, andererseits. Ich muss ihnen zunächst einen Überblick verschaffen. Ich habe dazu einen methodischen Komplementarismus entwickelt, ich nehme in jedem Semester einen großen Komponisten durch und im darauf folgenden einen anderen, der diesem völlig widerspricht. Die Moderne besteht eben genau darin, dass es unterschiedliche, grammatisch inkompatible Positionen gibt. Zwischen einem Xenakis und einem Kurtág gibt es so gut wie keinen Berührungspunkt. Ich versuche hier eine Antischule, natürlich innerhalb dessen, was ich Kunstmusik nenne, und mit dem Anspruch auf Qualität und auf Höhe, das heißt auch Reflexionshöhe. In diesem Sinne versuche ich eine kritische Unterrichtspraxis.
So sehr sich Ihr Konzept, auch Ihr pädagogisches Konzept, gegen eine postmoderne ironische Beliebigkeit richtet, könnte man sagen, dass das weitgehende Fehlen ironischer Selbstzurücknahmen die Lektüre Ihres Buches in seiner Ernsthaftigkeit sehr 'deutsch' erscheinen lässt?
Mahnkopf: Wenn gesagt wird, dass die Deutschen keinen Humor und große Schwierigkeiten mit Ironie haben, dann gilt das nicht für mich. Sie dürfen nicht vergessen, dass ich bei Brian Ferneyhough studiert habe, der als Engländer seinen Humor mitbringt, und ich mit einer Jüdin verheiratet bin, so die jüdische Selbstironie tagtäglich erlebe. Aber eine Theorie ist nicht der Ort für Ironie. Die Literatur vielleicht, die Kunst, aber nicht Theorie. Der Theorie geht es um Wahrheit.