Legendenträchtige Unterschlüpfe

Der Band "Eine literarische Einladung" führt durch die Vielfalt der Pariser Arrondissements

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das schmale Buch liegt mit seinem schönroten Einband gut in der Hand. Vorne leuchtet auf einem Foto der Eiffelturm, Lichtglanz spiegelt sich in der Seine, an deren gegenseitigem Ufer die roten Lichtstreifen der Autos daran erinnern, dass Paris immer noch, trotz vieler ehemals unvorstellbarer Veränderungen zugunsten der Fußgänger und Radfahrer, eine Autostadt ist - keinesfalls immer so ,schön' wie auf diesen Foto. Doch das ist abschweifend! Der Band, den wir zu besprechen haben, will locken: "Paris. Eine literarische Einladung" lautet der Titel.

Versammelt sind Texte zeitgenössischer französischer Autoren, vergleichsweise bekannt sind die ,älteren' dieser Schriftsteller, wie Marguerite Duras, George Perec, Raymond Queneau, Michel Tournier, während ,jüngere' wie Malika Wagner, Jean Philippe Toussaint, Véronique Olmi oder Anna Gavalda einem breiteren deutschen Publikum noch weitgehend unbekannt sind. Indes geht es in diesem Band nicht um literarische Entdeckungen, vielmehr sollen die aus größeren Texten der Autoren ausgewählten Stellen "Stadtansichten" bieten, mit denen sich die Metropole in einem durchaus praktischen Sinne erkunden lässt. Weshalb die Herausgeberinnen die Texte so "angeordnet" haben, "dass man ihnen buchstäblich hinterherlaufen kann." Und nun erweist sich die angenehm anschmiegsame Passform des Bandes auch als praktische - bequem lässt sich das Buch in eine Tasche stecken und zur Stadterkundung mitnehmen. Wer aber bis zum nächsten Paris-Besuch nicht warten möchte, dem sei empfohlen, einen Stadtplan zur Hand zu nehmen oder im Internet eine entsprechende Paris-Seite zu öffnen und den Texten dieserart durch die Stadt zu folgen. Der Weg folgt der spiralförmigen Anordnung der Arrondissements, die im ersten Beitrag des Bandes jeweils knapp charakterisiert werden. Die literarische Stadterkundung beginnt im Quartier Saint Germain im 6. Arrondissement und führt im Uhrzeigersinn dann via Eiffelturm auf die andere Seite der Seine über die Champs-Elysées, dem Gare Saint-Lazare und dem Parc Monceau bis in die nördlichen Arrondissements, nach Montmartre und Clignancourt (18. Arr.). Vom Gare du Nord im 10. Arrondissement führt der Weg über das östlich gelegene 20. Arrondissement mit dem Viertel Belleville zur Bastille im 11. Arrondissement. Von dort geht's dann zurück zur Seine auf die Île Saint-Louis im vierten Arrondissement und ins Quartier Latin im fünften Arrondissement.

Die Texte sind in Form und Inhalt von sehr unterschiedlicher Güte. Es finden sich da neben dem Chanson-Text über die Champs-Elysées von Joe Dassin, Liebesgeschichten in Saint Germain oder im Jardin du Luxembourg wie die von Anna Gavalda und Véronique Olmi, auch der unvermeidliche Michel Houellebecq darf mit wenigen Zeilen über "die Ecke bei der FNAC" nicht fehlen, um zumindest noch "meinen Schwengel da unten" einführen zu können. Sebastien Lapaque erzählt von einem jugendlichen "Sturm auf den Eiffelturm", im Mittelpunkt eines kurzen Textes von Raymond Queneau steht der Bahnhof Saint-Lazare, während der Gare du Nord in einem Text von Malika Wagner der Sehnsuchtsort junger Vorstadtmädels ist. Texte von Eric Hazan und Jean Robin erkunden die kulturhistorische Vergangenheit vom Montmartre und der Gegend "Um den Boulevard Ney" im Norden der Stadt. Gerade diese Texte, zu denen auch der Text Didier Daeninckx gehört, vermitteln trotz ihrer Kürze eine prägnante Sicht auf die soziokulturelle Wirklichkeit dieser Stadtregionen abseits der touristischen Empfehlungen. Beeindruckend sind in diesem Sinne auch die biografisch beeinflussten Beiträge von Patrick Modiano über die Porte de Clignancourt oder Michel Tourniers Text über die Île Saint Louis.

Sie erinnern an ein Paris aus der Vergangenheit: ein Paris der kleinen Leute, die in vom Ruß der Dampflokomotiven verdreckter Luft ihren kleinen Gewerben nachgingen; das mythenträchtige Bohème-Paris aus einer Zeit, als "die Unbequemlichkeit der Zimmer [...] sich nur mit der Schönheit der Stadtlandschaft messen [konnte]..., die von unseren Fenstern eingerahmt wurden." Jaques Yonnets Text über das Quartier Latin führt zurück in die Zeit der Okkupation, als man in den winzigen Staßen des Viertels nah der Seine Unterschlupf vor den Deutschen zu finden hoffte. In Häusern, die eine eigene legendenträchtige Vergangenheit hüten, wie die des Uhrmachers, der die Zeit rückwärts laufen lassen konnte.

Alle Texte, so fragmentarisch sie auch sind, liefern gemeinsam ein beeindruckendes Abbild der Stadt als Ganzes. Sie vermitteln zudem ein Gefühl für diese Stadt, die vollständig nur in ihrer Vielfalt zu verstehen ist. Dass diese oftmals nur abseits der touristischen Wegstrecken zu finden ist, auch dazu leistet der handlich schmale Band seinen Beitrag.


Titelbild

Karin Uttendörfer / Annette Wassermann (Hg.): Paris. Eine literarische Einladung.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007.
144 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783803112446

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