Hybride Identitäten in der de/konstruktiven Post/Moderne

Ein kulturwissenschaftlicher Sammelband über "Postmoderne" und "Dekonstruktion"

Von Jürgen WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter dem Titel "PostModerne De/Konstruktionen" fand im November 2002 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg die fünfte internationale und interdisziplinäre Konferenz zur Postmoderne statt. Eine Auswahl der auf dieser Konfernz präsentierten Beiträge wurde nun im vorliegenden Band publiziert. Die "PoMo"-Diskurse haben an der genannten Universität bereits eine gewisse Tradition, da sich schon mehrere Konferenzen mit diesem Thema dort beschäftigt haben. Kein Wunder also, dass auch im Konferenzband ein hochkarätiges internationales Team aus Wissenschaftlern dem Lesepublikum die neuesten Begriffe, Zeichen und Symbole der aktuellen Diskussion vorstellt. Die Beiträge haben auch in den vergangenen fünf Jahren nichts an ihrer Aktualität eingebüßt.

In ihrer Einleitung präsentieren die Herausgeber die Definition des Begriffes "Postmoderne". "Die Abkehr vom Glauben an die Existenz einer absoluten Sinninstanz und die in der Postmoderne häufig formulierten Zweifel an der menschlichen Vernunft und Erkenntnisfähigkeit" sowie die grundsätzlichen Zweifel an einem Telos der Welt scheinen für die Definition begriffsbildend konstitutiv zu sein. Folgerichtig werden die Beiträge in die Kapitel "Postmoderne Ethik?", "Politische De/Konstruktionen", "Postkoloniale Diskurse" und "Literarische Identitäten" gegliedert.

Ein besonders lesenswerter Beitrag aus dem Kapitel "Politische De/Konstruktionen" ist der Artikel von Gerd Sebald. In "Baudrillard, die Gabe und der 11. September" schreibt der Autor in Bezug auf Baudrillard selbstverständlich, dass es in den heute wirkenden Simulakren der dritten Ordnung keine Serien mehr gebe, "nur noch Codes und 'Modelle' aus denen alle Formen durch eine leichte Modulation von Differenzen hervorgehen". Codes und Modelle bringen jede Form der Repräsentation zum Verschwinden. Das Ergebnis sei - laut Baudrillard - ein sich selbst produzierendes und selbstreflexives, wucherndes System von Zeichen. Ein gigantisches Ritual von Zeichen der Arbeit breite sich über die ganze Gesellschaft aus und schlussendlich verschwinde mit dem Ende des Kapitalprozesses als Produktionsprozess auch die Fabrik.

Stattdessen nehme "die Gesamtheit der Gesellschaft das Aussehen einer Fabrik an". Die Vervollkommnung des Systems sei auch der Grund für seinen Untergang. Die einzige mögliche Strategie sie deswegen nicht dialektisch, sondern katastrophisch: "Man muss die Dinge bis zum Äußersten treiben, bis zu jenem Punkt, an dem sie sich von selbst ins Gegenteil verkehren und in sich zusammenstürzen." Sebald wählt die pikantesten Zitate Baudrillards, die sich heute wie eine Rechtfertigung des Terrorismus lesen, seien es nun die RAF Devise "Je schlimmer, desto besser", die nahtlos an Baudrillars obiges Zitat anschliessen könnte, oder der Terrorismus des 11. Septembers. Der "Terrorismus als Kommunikationsstrategie"erscheint als eine Bewegung, die versucht, mit Hilfe von Zeichen und Symbolen das Begriffsystem des Westens zu knacken und durch symbolische Aktionen das westlich-kaptialistische System zum Einsturz zu bringen. Die Antwort, ob und wie die Ereignisse des 11.9. Baudrillards Theorien nun widerlegen oder bestätigen, bleibt uns allerdings auch Sebald selbst schuldig.

Im Kapitel "Postkoloniale Diskurse" wird von Ozkan Buckali und Julia Reuter der Begriff "Hybridisierung" im Zusammenhang mit der postmodernen Diskussion erneut definiert und auf seine "Bodenhaftung" überprüft. Unter Hybridisierung wird in der Botanik und Biologie allgemein verstanden, Kreuzungen von Tieren oder Pflanzen zur Bereicherung des Genpools zu optimieren. Mensch-Maschine-Hybride sind aus der Literatur oder von Filmen schon bekannt geworden. Ein neuer Diskussionszusammenhang entstand jedoch mit der Verwendung des Begriffes "Hybridisierung" in den Sozialwissenschaften, um moderne Identitätsphänomene zu beschreiben. Drei Paradigmen prägten demzufolge auch die Diskussion: kultureller Differentialismus, kulturelle Konvergenz und die kulturelle Hybridisierung als neueres Phänomen der Sozial- und Kulturwissenschaften. Anders als Samuel Huntington, der vornehmlich Rivalitäten und Konflikte zur Charakterisierung von Kulturen und Zivilisationen heranzieht (kultureller Differentialismus) oder Fukuyamas Theorie vom Ende der Geschichte (kulturelle Homogenisierung/Konvergenz) versucht nun die Hybridisierung ihren Schwerpunkt auf "Begegnungen, Mischungsverhältnisse, Kreuzungen, Übergänge, Übersetzungen, Collagen, Sampling Synkretismus, Cross-over und Kreolisierung" zu setzen. Hybride Kulturen und Identitäten seien kein Sonderfall, sondern der Normalfall in einer (post-)modernen globalisierten Welt.

Auch die gemeinsame Geschichte der oft als Gegensätze verstandenen Weltregionen sei geprägt von grenzübergreifenden und identitätsstiftenden Beziehungen und Erfahrungen. Das ,Andere' ist also gerade essentiell für die jeweilige ,eigene' Kultur. Eine Gefahr sehen die beiden Autoren hingegen in der "Kulturalisierung", in der die marginalisierten, sozialen Gruppen ihre kulturellen Besonderheiten betonen und damit als "kulturelle Unterschiede" unhinterfragt verabsolutieren. Weiter betonen die Autoren, dass gesteigerte Beweglichkeit nicht unweigerlich ein grösseres Maß an Dislozierung bedeute: "Sie kann auch das Gefühl für 'Heimat' stärken und so aus einem kosmopolitischen Weltenbürger einen kulturalisierten Faschisten machen".

Das Fazit der Autoren fällt dementsprechend düster aus: "Hinter dem neutral erscheinenden Begriff des 'Kulturtauschs' verbirgt sich ein Kampf, der unter den Bedingungen von Ausbeutung, Unterdrückung, Sprachlosigkeit und inneren Widersprüchen stattfindet. Hier wäre eine Fetischisierung von Marginalität und Hybridität ebenso unangebracht wie gefährlich, denn diese sind selbst Ausdruck der spezifischen Strukturen von Differenz im Sinne eines Beziehungsgefüges zwischen Positionen der Macht und der Machtlosigkeit, und dergestalt auch diese Strukturen gebunden."

Im IV. Kapitel "Literarische Identitäten" widmet sich ein Aufsatz von Anthony Enns dem amerikanischen Autor Burroughs und seinem zentralen "Hybrid" Mensch-Schreibmaschine. Bemerkenswert liest sich die Neuigkeit, dass Burroughs' väterlicher Grossvater 1890 eine "adding machine" erfunden hatte. Aus diesem Umstand erklären sich wohl auch einige Obsessionen, die der Schriftsteller Burrouhgs mit diesem Objekt, dem späteren "typewriter" verbanden. "He (Burroughs, JW) extends this argument to the digital realm by suggesting that the typewriter 'produces an information space divorced from the body: a proto-cyberspace'". Burroughs sieht seinen Körper als "programmed through language with ,pre-recordings' that ,function as parasites ready to take over the organism'". Nicht er schreibt also "es", sondern es schreibt ihn. "We (die Schriftsteller, JW) are simply the message typed onto jelly flesh by some biological computer referred to as the soft machine."

Das von Burroughs kreierte Hybrid aus Mensch und Schreibmaschine, mag auch als eine abstrakte mechanistische Erklärung für Inspiration dienen, die sich der Mensch in der "gottlosen Postmoderne" nicht mehr anders erklären kann. Nachdem Gott für tot erklärt wurde, übernimmt nun die Maschine seine Funktion als Inspirationsquelle oder sinnstiftendes Element in unserem deswegen nicht sinnvolleren Leben. Eine interessante Annäherung an den postmodernen Diskurs auf literarischer Ebene also, die sie hier von Anthony Enns angeboten bekommen.

Der vorliegende Konferenzband ist für bilinguale Interessenten an der aktuellen (internationalen) Diskussion der Postmoderne gedacht. Einige Artikel sind auch auf Englisch verfasst und setzen diese als Zweitsprache voraus. Auch werden von einigen Autoren, die zwar auf Deutsch schreiben, Zitate von französischen Autoren im Original zitiert. Passive Kenntnisse dieser Sprache werden vom "postmodernen Kosmopoliten" also ebenso verlangt wie das Konferenzenglisch. Das kann nicht als Manko des Buches moniert werden, sondern ist im Gegenteil eine Erinnerung an die eigenen Ansprüche als "postmodernen Mensch[en] unserer Zeit". Aber natürlich wird man dieses Buch - auch ohne dreisprachig zu sein - verstehen, da der Großteil der Beiträge auf Deutsch verfasst ist. Zudem sind die Artikel kurz, dafür aber prägnant und zusätzlich - und dankenswerterweise - mit einem Fazit, einer Zusammenfassung der wichtigsten Thesen, ausgestattet. Der Band bietet dem Leser eine große Bandbreite an unterschiedlichsten Autoren aus den verschiedensten Ländern und bringt sie auf den aktuellen Stand der Forschung oder hilft ihnen zumindest das, was bis 2002 geschah, nachzuholen. So wird man mit dem wichtigsten Begriffsreservoir zur Diskussion ausgestattet und kann nun auch wieder einmal selbst wagen, einen Hörsaal zu betreten.


Titelbild

Susanne Kollmann / Kathrin Schödel (Hg.): PostModerne De/Konstruktionen. Ethik, Politik und Kultur am Ende einer Epoche.
LIT Verlag, Münster 2004.
289 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3825878961

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