Alle anders, alle gleich

Vom Konformismus zur Abweichung als Norm: vier Romane zur Krise des kapitalistischen Subjekts

Von Maik SöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maik Söhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Alle anders, alle gleich". Hat dieser Kernsatz des Humanismus heute überhaupt noch Bestand? Oder kritischer gefragt: Produziert der Kapitalismus in den Subjekten eigentlich immer noch Konformismus? Oder ist ihm mittlerweile die Normabweichung lieber, wie es die Werbung mit ihren (hyper-)individualistischen Appellen schon länger vormacht? Vier aktuelle Romane versuchen, diese Fragen zu beantworten.

Benjamin Black: katholischer Konformismus

Benjamin Black, ein Pseudonym, hinter dem der irische Schriftsteller John Banville in die Welt der Spannungsliteratur eintaucht, kann es sich leicht machen. Sein Kriminalroman "Nicht frei von Sünde" erzählt die Geschichte einiger Morde und Kindesentführungen aus der Sicht des Dubliner Pathologen Garret Quirke. Wir befinden uns im Irland der fünfziger Jahre. Wer hier was werden will, geht Sonntags zur Heiligen Messe, diskriminiert nach Kräften Frauen und Kinder, reiht sich in alte Seilschaften ein, wartet geduldig auf den Aufstieg in ihnen und durch sie und hält - zumindest in der Öffentlichkeit - weder etwas von Verhütung noch von Sex vor der Ehe.

Wer an den Rand oder wie in Blacks Roman in den Tod gedrängt werden will, verstößt gegen diese eisernen Regeln christlich-fundamentalistischer Vergesellschaftung. Black schildert eine von elitärer und moralischer Ideologie nur wenig kaschierte, unfassbar grausame Welt, in der Kapitalismus, Katholizismus und Konformismus in Eins fallen. Am Ende fragt man sich, ob die Besessenheit der Katholiken vom Teufel nicht einfach daher rührt, dass sie ihn jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde in sich selbst vorfinden.

Black bringt diese Stimmung bereits im ersten Satz des Romans auf den Punkt: "Quirke grauste es nicht vor den Toten, sondern vor den Lebenden." Klar, denn er ist als Individualist mit ausschließlich irdischen Vorlieben wie Whisky und Zigaretten ein krasser Außenseiter in der Gesellschaft derer, die sich kollektiv auf jenseitige Werte berufen, und er wird am Ende des Buches immer noch ein Outlaw sein.

Titus Keller: widersprüchliche Waffen

Den Übergang zu einem eher individualistischen Verständnis des literarischen Subjekts bildet Titus Kellers Krimi "Aussortiert". Auch Keller ist ein Pseudonym, noch weiß man nicht, wer sich dahinter verbirgt, es soll aber ein bekannter deutscher Schriftsteller sein. Es ist ein interessantes Phänomen, dass sich derzeit immer mehr Schriftsteller ins Spannungsgewerbe begeben. Ist das jetzt die Literarisierung des Krimis als Antwort auf die in den letzten Jahren so oft beschriebene Kriminalisierung der Literatur?

In einem heißen Sommer nach der Jahrtausendwende wird Berlin von einer Mordserie erschüttert, die auf den ersten Blick jeden treffen könnte, der sich gewisse moralische Verfehlungen geleistet hat. Die Morde geschehen im Pornokino, im Fastfood-Restaurant oder auf dem Straßenstrich.

Die Ermittlungen von Kommissar Kai Nabel - auch er zieht die Toten den Lebenden vor, trinkt gern und viel, neigt zum Nihilismus und zur Brutalität - weisen aber schnell in eine andere Richtung. Die Organisierte Kriminalität (OK) scheint die "lila Serie", wie die Hauptstadtpresse die Morde nennt, nur initiiert zu haben, um von der Beseitigung unliebsamer Mitwisser abzulenken.

Kellers Gesellschaftsbild ist präzise und ausdifferenziert, die OK ist im Sinne Niklas Luhmanns ein ebenso selbstreferenzielles System wie der Polizeiapparat, ohne dabei jedoch hermetisch oder widerspruchsfrei zu sein. Strategien der Anpassung und Abweichung werden von Situation zu Situation jeweils neu und zum Teil mit Waffengewalt ausgehandelt. Das Buch soll hier trotzdem, zumindest der Tendenz nach, dem Verständnis, Kapitalismus produziere Konformismus, zugeschlagen werden. Denn wenn Keller eines zeigt, dann dass es weder ein Entkommen aus dem noch eine Nische im Kapitalismus gibt. Und diese Totalität prägt die Subjekte im Roman mehr als alles andere.

A.M. Homes: dialektisches Downshifting

Der Gegenentwurf dazu heißt "Dieses Buch wird Ihr Leben retten" und stammt von der US-amerikanischen Dichterin A. M. Homes (kein Pseudonym!). Mit großer Ruhe und Gelassenheit entwickelt sie rund um ihre Hauptfigur, den im Aktienhandel reich gewordenen Richard Novak, ihre literarische These, dass es durchaus ein richtiges Leben im falschen geben kann.

Das hört man gerne, denn alles andere ist ja auf Dauer furchtbar anstrengend und schwer erträglich. Homes macht anschaulich, was sich hinter dem in den USA und Kanada mittlerweile weit verbreiteten Phänomen namens "Downshifting" verbirgt. Nämlich ein bewusster Abschied vom täglichen Trott, ein Ausscheren aus dem ewigen Kreislauf von Job, Shopping und unglücklichem Single-, Pärchen- oder Familiendasein.

Novak steigt aus, nachdem ihn starke Schmerzen ins Krankenhaus und ein Erdrutsch aus seiner Luxusvilla getrieben haben. Es gibt kein Zurück, er wird zum barmherzigen Samariter, treu sorgenden Vater und verständnisvollen Nachbarn. Unter dem Standpunkt radikaler Kritik handelt es sich also gar nicht um ein Ausscheren aus dem Kreisverkehr, sondern nur um ein verlangsamtes Fahren auf der rechten Spur mit einigen Päuschen auf den dafür ausgewiesenen Rastplätzen. Dabei aber erscheint der Parkplatz den Downshiftern als Paradies.

Homes hat begriffen, dass zwischen Anpassung und Abweichung in den USA derzeit ein dialektisches Verhältnis besteht. Moden, Konsum und Trends sind ohne die Betonung von (Hyper-)Individualität nicht mehr denkbar. Das Ergebnis davon aber ist, dass doch wieder viele das gleiche anziehen, kaufen, unternehmen. Was wiederum zu noch individuelleren Marketingstrategien führt und so weiter. Außerdem ist Novak die Gegenfigur zu Don DeLillos Eric Packer aus "Cosmopolis", noch so einem superreichen Börsenheini. Packer will seine Lebenskrise durch gesteigerte Aktivität überwinden und stößt dabei an seine Grenzen. Novak aber wird zum Lahmarsch - und damit grundsympathisch.

Der schottischen Autorin Ali Smith gelingt es in "Im Hotel", den Individualismus gleichzeitig zu affimieren und zu negieren. Das beginnt schon bei der Struktur und der Sprache des Romans. Aus Fragmenten und Fetzen baut sie in bester postmoderner Literaturtradition ein Gerüst aus Leid und Scheitern. Das junge Zimmermädchen Sara ist bei einem Unfall im Global Hotel zu Tode gekommen. Ihr Geist sowie vier Frauen werden das Hotel in der Folge in einen Ort bizarrer Einsamkeit verwandeln. Alle gültigen Normen verschwinden hinter den radikal subjektiven Entwürfen der handelnden Figuren. Anpassung ist nicht möglich, weil es nichts gibt, woran man sich anpassen könnte.

Das Buch zeigt unfreiwillig, was wäre, wenn Margaret Thatcher mit ihrer legendären Verneinung der Gesellschaft ("There is no such thing as society. There are individual men and women, and there are families") Recht gehabt hätte, wie also eine Welt aussähe, in der Abweichung zur Norm und Individualismus zur bloßen Form wird. Es wäre eine zerschlagene, abgründige Welt. Smith aber weiß auch um die Schönheit des Abgrunds und der Randale, die dem Zerschlagen nicht selten vorausgehen. Hier ist am Ende alles gebrochen - Anpassung wie Abweichung, Norm und Form, Individuum und gesellschaftliche Interaktion.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text erschien bereits in der Jungle World Nr. 12 vom 21. März 2007. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.


Titelbild

Titus Keller: Aussortiert. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
275 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783821809540

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A. M. Homes: Dieses Buch wird ihr Leben retten. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007.
464 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783462037678

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Ali Smith: Im Hotel. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Luchterhand Literaturverlag, München 2007.
251 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-13: 9783630621081

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Titelbild

Benjamin Black: Nicht frei von Sünde. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Christa Schuenke.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007.
432 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783462037685

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