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Spurensuche

In Alexander Häussers Roman "Karnstedt verschwindet"

Von Monika Grosche

Simon fühlt sich nicht wohl bei dem Gedanken, sich um die Hinterlassenschaft von Karnstedt zu kümmern, schließlich ist es 20 Jahre her, seit ihre Freundschaft zerbrach. Dennoch hat Karnstedt ihn zum Nachlassverwalter ernannt und so ist er notgedrungen nach Dänemark gereist, wo dieser die letzten Jahre auf einem abgelegenen Hof gelebt und nun anscheinend den Freitod im Meer gesucht hat. Widerwillig macht sich Simon daran, die Angelegenheiten seines Jugendfreundes zu regeln und dessen Haus zum Verkauf anzubieten.

Am Liebsten möchte er das Haus, das Land und die Erinnerungen, die in ihm aufsteigen, so schnell wie möglich hinter sich lassen. Aber auch nach Jahrzehnten schlägt ihn die Persönlichkeit Karnstedts wieder in ihren Bann. Immer neue Szenen aus der gemeinsamen Schulzeit in der schwäbischen Provinz tauchen auf, erwecken längst verdrängte Emotionen zu neuem Leben. Beide waren sie Außenseiter: Der geniale Karnstedt wegen seiner Haarlosigkeit und Simon aufgrund seiner schmächtigen Proportionen.

Was als Zweckbündnis gegen die Quälereien der Mitschüler, speziell der angesagten Mofaclique um Erzfeind Tummer, beginnt, wächst über die Jahre zu einer engen Beziehung. Beide begeistern sich für Paläontologie, träumen von einer Karriere als Wissenschaftler, die sie in die Welt hinaus führt und entwerfen nachts in Simons Dachkammer Lebensentwürfe für sich selbst und für die Menschen in ihrer Umgebung. Als Simon sich in eine schöne Unbekannte verliebt, die sich ausgerechnet als Geliebte von Tummer entpuppt, bekommt die Zweisamkeit Risse.

Simon erkennt zu spät, dass ihre Beziehung für Karnstedt weit mehr bedeutet als bloße Freundschaft. Eifersüchtig versucht dieser, nicht mehr nur theoretisch Schicksal zu spielen. Karnstedt will Simon um jeden Preis an sich binden - und beschwört damit eine Katastrophe herauf.

Zu Beginn von Häussers "Karnstedt verschwindet" sind Protagonist und Leser gleichermaßen mit dem Tod konfrontiert, einer Geschichte, die "gelaufen" zu sein scheint, schließlich ist nichts weiter zu tun, als die Hinterlassenschaften dessen, was einmal einen Menschen ausmachte, zu ordnen und zu regeln.

Dennoch gelingt Häusser über seine rückblickende Erzählweise ein ebenso geist- wie spannungsreicher Roman, bei dem die Frage nach der Unentrinnbarkeit des Schicksals im Zentrum des Interesses steht. Unweigerlich stellt sich dem Leser die Frage, wie die Geschichte hätte anders verlaufen können - wenn Simon eine schwule Beziehung nicht als "Ersatz" für "richtige" Liebe empfunden hätte, Karnstedt nicht versucht hätte, die Menschen in seiner Umgebung für seine Zwecke zu manipulieren, oder wenn beide den Mut aufgebracht hätten, ehrlich miteinander umzugehen.

"Karnstedt verschwindet" lebt vom Ungesagten, von Andeutungen, die sich erst im Fortschreiten des Leseprozesses allmählich erschließen lassen. Wie Streiflichter beleuchten die Erinnerungen Simons punktuell die Geschehnisse der Vergangenheit, aus denen sich nur zögerlich ein flüchtiges, schemenhaftes Gesamtbild entwickelt. Ebenso wie der Protagonist geht der Leser auf Spurensuche. Während Simon in der Gegenwart die Gründe für Karnstedts rätselhaftes Verschwinden erforscht, konfrontieren dessen Erinnerungen den Leser auf einer zweiten Erzählebene mit den tieferen Ursachen der Entwicklung, an deren Ende Karnstedts Freitod steht.

Mit zurückhaltender, reduzierter Sprache, die sich fast nur in nüchterner Außensicht seinen Figuren nähert, schafft es Häusser, auf unspektakuläre Weise eine geradezu beklemmende Spannung zu erzeugen und Emotionen zu wecken. Scharfsinnig und sensibel zugleich entwirft er Charaktere, die der provinziellen Enge ihrer Lebenswelt zu entkommen versuchen, zugleich aber an der Enge ihres eigenen Denkens scheitern. Ein intelligenter, hintergründiger Roman über das Erwachsenwerden und die Untiefen der Liebe.

Alexander Häusser: Karnstedt verschwindet. Roman. Knaus Verlag, München 2007. 176 Seiten, 16,00 EUR. ISBN-13: 9783813502930 Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch