Die pychosozialen Grundlagen der Zustimmungsdiktatur

Stephan Marks analysiert, weshalb viele Deutsche Hitler folgten

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die historische Forschung, soweit sie sich mit der NS-Zeit beschäftigt, hat psychologische beziehungsweise psychoanalytische Interpretationen bis dato weitgehend ignoriert. Seitdem sich Ende der 1970er-Jahre einige psychohistorische Studien mit Adolf Hitlers Persönlichkeitsentwicklung befasst haben, gelten solche Ansätze als diskreditiert.

Die geschichtswissenschaftliche Kritik an den damaligen Befunden, wonach Hitler an einem Ödipuskomplex litt und zu neurotischer Psychopathie neigte, war einhellig: Sie könnten nicht erklären, wie es einem derartigen Paranoiker überhaupt gelungen sei, zum Alleinherrscher in einem hoch entwickelten Staat zu werden, seine rassistische Vernichtungsideologie zu einem gesellschaftlich akzeptierten Programm zu machen und im Zweiten Weltkrieg auch noch in die Tat umzusetzen. Dieses Verdikt hat erst gar keine Debatte um eine mögliche Verbindung von NS-Forschung und Psychologie aufkommen lassen. Erst durch neuere Studien über die Massenerschießungen von polnischen und sowjetischen Juden durch deutsche Polizeibataillone im Zweiten Weltkrieg sind sozialpsychologische Herangehensweisen ins Bewusstsein der NS-Forschung gerückt.

Es kann mittlerweile als gesichert gelten, dass die situative psychosoziale Dynamik, die unter den Angehörigen dieser Einheiten herrschte, wesentlich zur Eskalation des Mordgeschehens in den Jahren 1939 und 1941/42 beitrug.

Weiter verbreitet sind psychoanalytische Verfahrensweisen in denjenigen Studien, die sich auf der Basis von lebensgeschichtlichen Interviews mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit nach 1945 befassen (davon zu unterscheiden ist jener eigenständige Zweig psychoanalytischer Forschung, der sich in klinischer Absicht mit den Holocaust-Überlebenden beziehungsweise der Traumatisierung ihrer Kinder und Enkel beschäftigt). Auf den ersten Blick ist auch die vorliegende Darstellung, die der Freiburger Psychologe Stephan Marks und sein Team erarbeitet haben, in den Zusammenhang der expandierenden Forschung über Verarbeitung, Gedächtnis und Erinnerung einzuordnen. Für ihr Projekt "Geschichte und Erinnerung" interviewten sie 19 Frauen und 24 Männer, die den Jahrgängen 1906-1926 angehörten. Marks und seine Mitarbeiter wollten wissen, weshalb die Befragten den Nationalsozialismus aktiv unterstützt hatten. Dazu führten sie halboffene Gespräche, wodurch den Interviewten genügend Raum für eigene Assoziationen, Gefühle und Themen blieb.

Bei der Auswertung der Interviews, die im vorliegenden Buch nur exemplarisch geschieht, benutzten Marks und sein Team die Tonbänder der Gespräche, um das körperliche, auditive und visuelle Interviewgeschehen zu berücksichtigen. Sie entschieden sich für die tiefenhermeneutische Herangehensweise, die Alfred Lorenzer und viele andere Psychoanalytiker, Anthropologen und Soziologen entwickelt haben. Die in die Tiefenhermeneutik eingelassene Analyse der Gegenübertragung, bei der die Beziehungen zwischen Interviewern und Interviewten zum konstitutiven Bestandteil der Interpretation werden, lässt die vorliegende Studie über die konventionelle Gedächtnisforschung hinausgehen. Marks und seine Mitarbeiter stützen ihre Thesen also sowohl auf explizite Aussagen der Interviewten als auch auf deren unbewusste Haltungen, die sie aus Gegenübertragungsanalysen gewannen. Unterstützt wurde diese Vorgehensweise durch ein ausgefeiltes System externer Supervision, das allerdings nicht näher erläutert wird.

In Übereinstimmung mit der neueren geschichtswissenschaftlichen Forschung gehen Marks und sein Team davon aus, dass es sich beim NS-Regime um eine "Zustimmungsdiktatur" (Frank Bajohr) handelte, in der Massengefolgschaft die Regel, Widerstand hingegen die Ausnahme war. Anhand ihrer Interviews arbeiten sie insgesamt sechs Punkte heraus, die zu dieser massenhaften Unterstützung des NS-Regimes beitrugen. Erstens habe die NS-Propaganda das "magische Denken" vieler Deutscher gefördert, wodurch deren frühe regressive Schichten aktiviert worden seien. Zweitens hätten sich die Zuschauer der zahllosen NS-Massenveranstaltungen in "hypnotische Trance" hineingesteigert, seien also in einen Zustand reduzierten Wahrnehmungsvermögens verfallen. Drittens habe der NS-Staat die Möglichkeit geboten, die durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg erlittene Scham abzuwehren. Viertens habe das NS-Regime über ausgeklügelte Mechanismen der Zuteilung sozialer Ehre dafür gesorgt, dass viele Deutsche ihre narzisstischen Bedürfnisse erfüllen konnten. Fünftens sei es dem NS-Staat gelungen, die von vielen Frontsoldaten nach dem Ersten Weltkrieg praktizierten Formen der Bewältigung ihrer kollektiven Traumata, also Derealisierung, Gefühlskälte, Idealisierung und Heroisierung, zum gesamtgesellschaftlichen Programm zu erheben. Sechstens schließlich sei die NS-Zeit von vielen Beteiligten als "rauschhaft" erlebt worden, was oftmals zu regelrechten Suchtphänomenen geführt habe.

Das eigentliche Interesse des Forscherteams um Marks liegt darin, diese Erkenntnisse in relevante Praxisfelder zu transferieren, also in Psychotherapie, Beratung, Altenarbeit und Pädagogik. Allerdings sind ihre Ergebnisse, wie sie sich in den sechs genannten Punkten manifestieren, auch für die geschichtswissenschaftliche Forschung von Wert. Sie reichen nämlich deutlich über deren Kategorien zur Erklärung der Massengefolgschaft während der NS-Zeit hinaus. Zurecht kritisiert Marks den von der NS-Forschung so inflationär verwendeten Begriff der "charismatischen Herrschaft", der aus Max Webers Herrschaftssoziologie stammt, letztlich aber nichts anderes ist als eine Wiederholung der NS-Ideologie, wonach Hitler übernatürliche Kräfte gehabt habe. Ähnliches ließe sich auch für den "Hitler-Mythos" oder von der Bereicherung der Bevölkerung an der antijüdischen Politik des "Dritten Reiches" zeigen, die von Historikern wie Götz Aly als maßgebliche Faktoren einer Erzeugung von Massenloyalität angesehen werden. Marks und sein Team steigen leider zu selten in die geschichtswissenschaftlichen Debatten ein und versuchen kaum einmal, solche wenig befriedigenden Erklärungen mittels ihrer psychoanalytischen und tiefenhermeneutischen Methodik auf den Prüfstand zu stellen. Möglich wäre dies allemal gewesen. Deshalb tut die NS-Forschung gut daran, sich psychologischen Ansätzen weiter zu öffnen, als dies bisher der Fall gewesen ist. Das vorliegende Buch könnte ein passender Anlass dafür sein.


Titelbild

Stephan Marks: Warum folgten sie Hitler? Die Psychologie des Nationalsozialismus.
Patmos Verlag, Düsseldorf 2007.
220 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783491360044

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