Hermeneutik ohne Legende

Eine wegweisender Sammelband zur Geschichte textinterpretierender Wissenschaften

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Kontinuität" und "Diskontinuität" sind als narrative, Ordnung stiftende Kategorien der Wissenschaftsgeschichte ebenso problematisch wie unumgänglich. Problematisch sind sie vor allem dort, wo sie nicht als begründete Prämisse, sondern als ungeprüfte, nur im Rekurs auf Traditionen, Dogmen, Autoritäten und so weiter legitimierte Vorurteile wirksam werden. Sie stiften Zusammenhang, behaupten Abhängigkeiten oder verneinen beides, bringen meist implizit Präferenzen und Werturteile zum Ausdruck. Sie geben an, was in welchem zeitlichen Rahmen von Bedeutung, mithin mitteilungswürdig ist und was demgegenüber ausgeblendet werden kann.

Die Gleichzeitigkeit des Widersprüchlichen, mehrerer Geltung beanspruchender epistemologischer Modelle etwa, können sie allerdings selten adäquat abbilden, weshalb ihnen eine Reihe weiterer Ordnungskategorien subordiniert wird. Konzepten wie dem des "Paradigmas", der "Epoche", der "Schule", der "Denkrichtung" oder des "Stils" stehen solche des "Umbruchs", der "Zäsur", der "scientific revolution" oder des vielbemühten "Paradigmawechsels" gegenüber.

Natürlich lassen sich Inklusion und Exklusion auch graduell denken. Um ein Beispiel zu geben: In seinem Buch Literarische Ästhetik, in zweiter Auflage 1995 erschienen, zieht Peter V. Zima in Erwägung, bei der Rekonstruktion wirkmächtiger Positionen der Ästhtetikgeschichte "vom Gegensatz zwischen Hegels und Kants Ästhetik auszugehen". Dem Hegel- stünde also ein Kant-Paradigma gegenüber. Zima selbst macht indes von dieser reichlich undifferenzierten bipolaren Konstellation keinen Gebrauch, sondern versucht zu zeigen, "daß die wichtigsten Gegensätze innerhalb der modernen Literaturwissenschaft als Auseinandersetzungen um die Hegelsche und die hegelianische Ästhetik aufzufassen sind", das heißt wie "moderne (schon hier kommt freilich ein unreflektierte zeitliche Kontinuitätsthese zum Tragen) Ästhetiken" (womit eine thematische Kontinuitätsthese, ein philosophiehistorisches Konstrukt, hinzutritt) völlig, mehr, weniger oder gar nicht mit dem Hegel-Paradigma übereinstimmen. Natürlich besteht bei der Überbetonung des Identischen oder Ähnlichen stets die Gefahr eines Schematismus, die Gefahr, das Individuelle zum Exemplarischen zu degradieren. Andererseits bedingt die Überbetonung des Singulären, der Andersartigkeit, des Neuen und Abweichenden stets die Gefahr eines wissenschaftshistorischen Heroismus oder Schöpfungsmythos, die Gefahr, einen Denker, eine Schule, eine Epoche und so weiter von ihren Quellen und Einflüssen loszulösen, ihr Leistungen zuzusprechen, die sich mitunter schon lange vorher - gleichsam avant la lettre - anbahnten.

Gerade der Begriff der "Moderne" beziehungsweise des "Modernen" legt hinsichtlich der Wissenschaftsgeschichte den selbstverständlichen, nicht eigens zu rechtfertigenden Ausschluss eines vermeintlich vorkritischen, naiven, unreflektierten und mithin für gegenwärtige Wissenschaft bestenfalls noch als Gegenstand eines Sich-Abgrenzens relevanten Denkens und Handelns nahe. Irgendwo zwischen Inklusion und Exklusion, zwischen Kontinuität und Diskontinuität ist die Rede von der "Vorgeschichte", der personellen "Vorläuferschaft" zu verorten. Hier sind einige Spielarten zu unterscheiden: die Reklamation einer Ahnenreihe zur Legitimation eigener Projekte etwa oder die Degradation einer Denktradition zur bloßen Vor-, zur Nochnicht-Geschichte. All dies sind Behauptungsdiskurse, die selten ohne "fake" und "fiction" auskommen, Legenden, die oftmals an sehr konkrete Interessen gekoppelt sind.

Gerade die Hermeneutikgeschichte wird bis heute beherrscht von derlei Legenden, deren wirkmächtigste vermutlich die von Wilhelm Dilthey ("Die Entstehung der Hermeneutik", 1900) - inaugurierte Rede vom "gesetzmäßigen Gang", vom Protestantismus seinen Ausgang nehmend, in Schleiermachers Auslegungslehre kulminierend. Selbst wenn Hans-Georg Gadamer in "Wahrheit und Methode" (1960) versucht, "die Vorgeschichte [!] der Hermeneutik des 19. Jahrhunderts [...] nicht mehr von den Voraussetzungen Diltheys" aus zu sehen, so sind dennoch seiner Periodisierungen und Werturteile im wesentlichen von Dilthey abhängig. In einer mit Gottfried Boehm herausgegebenen Anthologie - (Seminar: "Philosophische Hermeneutik" 1976) - rekurriert Gadamer neuerlich auf Diltheys Ausführungen zur protestantischen Theologie und lobt diese gar als "noch heute [...] kompetenteste historische Darstellung und Würdigung dieser alten Autoren".

Die Pointe ist nun freilich, daß Diltheys Theorie der historischen Geisteswissenschaften und Gadamers mit deutlichem Affekt gegen die Aufklärung vorgetragene "philosophische Hermeneutik", ebenso wie auch Martin Heideggers Fundamentalontologie, der es ja in Umdeutung "traditioneller" Hermeneutik um ein "Auslegen des Seins als Dasein", um eine "Analytik der Existenzialität der Existenz" geht, je spezifische Begriffe von "Hermeneutik" und entsprechende Hermeneutikkonzeptionen zugrundeliegen, neue Paradigmen, die retrospektiv eine Selektion und stark selektive Wahrnehmung möglicher Vorläufer, bisweilen deren vollständiges Ausblenden, mit sich bringen.

Ein solches universell-existential gewendetes Hermeneutikverständnis war und ist vor allem in der Literaturwissenschaft enorm wirkmächtig. Ein Beispiel: Von der notorischen "hermeneutischen Wende um 1800" ausgehend, listet Achim Geisenhanslücke in seiner "Einführung in die Literaturtheorie" (2003) mechanisch die üblichen Verdächtigen auf: Schleiermacher - Dilthey - Heidegger - Gadamer. In dieser Lesart ist vor Schleiermacher mit einer ernstzunehmenden Hermeneutiktradition nicht zu rechnen. "Modern" sind in diesem Sinne jene Auslegungslehren und Verstehenstheorien, die bemüht sind, die Grenzen einzelner textinterpretierender Disziplinen (Theologie, Jurisprudenz, Altphilologie, Historiografie) in Richtung einer umfassenden, allgemeingültigen Grundlagendisziplin zu überschreiten.

Angesichts dieser Dominanz überrascht es nicht wenig, wenn Jörg Schönert und Friedrich Vollhardt unter dem Titel "Geschichte der Hermeneutik und Methodik der textinterpretierenden Wissenschaften" Beiträge versammeln, von denen sich die wenigsten mit Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts oder gar mit Gadamer und Co. auseinandersetzen, sondern statt dessen primär die Wissenschaftsgeschichte des Zeitraums zwischen 1550 und 1750 fokussieren, sich dem "Studium der älteren Methodenlehren der Textauslegung" verschreiben und sich dabei offenkundig an einem ganz anderen, methodologischen Hermeneutikbegriff orientieren. Eine Überraschung kann dies freilich nur für denjenigen sein, dem die hermeneutikgeschichtlichen Arbeiten von Lutz Danneberg, Oliver R. Scholz, Klaus Petrus, Werner Alexander, Reimund Sdzuj, Axel Bühler, Jan Schröder und anderen bislang nicht bekannt sind.

Die Offenlegung und Beseitigung unzähliger Irrtümer, Fehleinschätzungen und Legenden bisheriger "Forschung" ist diesen bahnbrechenden Studien (insbesondere bei Danneberg) zu verdanken, viel Unbekanntes wurde ans Licht gezerrt, wenngleich dies bislang - wie Friedrich Vollhardt in der Einleitung des Sammelbandes konstatiert - "kaum [...] zu einer Revision des üblichen Lehrbuchwissens beigetragen" habe. Ob dies nun darauf zurückzuführen ist, dass die spezifische Konzeption der Hermeneutik und ihrer Geschichte, wie sie vielen der genannten (bis auf den unumgänglichen Gebrauch "alter Sprachen" gut lesbaren) Untersuchungen zugrunde liegt, nicht konsensfähig ist, oder darauf, dass hier nur ein relativ kleiner Zirkel von Forschern zusammenwirkt, ist nicht abschließend zu klären. Ein Arkanum zur Legitimation eigener Wissensansprüche, eigener Diskursmacht wird hier, dies belegen unzählige exponierte Publikationen, jedenfalls nicht gepflegt.

Nun ist ein Spezifikum der Wissenschaftsgeschichte, dass je nach Perspektive, Thema und Darstellungsmodus verschiedene Facetten und Ebenen des betrachteten Gegenstandes in den Blick geraten. Es ist eine Stärke des vorliegenden Sammelbandes, Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der frühneuzeitlichen Hermeneutik abbilden zu können: Mikroskopische Studien zu einzelnen Autoren oder Werken treten neben makroskopische Untersuchungen größerere Zeiträume, Autorengruppen, Textkorpora oder umfassendere Problemkonstellationen. Objekte und Probleme des Verstehens- oder Interpretationsvorgangs werden ebenso fokussiert wie dessen methodologisch reflektierte und praktisch befolgte Regeln, dessen objekt- oder wissenschaftstheoretische Begründungsrahmen oder die Entwicklung und Ausdiffernenzierung einzelner textinterpretierender Disziplinen. Eine Schwäche ist die qualitative wie quantitative Heterogenität der übrigens aus einer Fachtagung 2001 hervorgegangenen Beiträge insofern, als ihnen (als Mosaiksteinchen) ein übergreifender systematischer Zusammenhang fehlt.

Genauer zu prüfen bleibt vor allem, dies stellt auch Vollhardt deutlich heraus, "ob die theoretischen Annahmen und Fragestellungen der älteren Hermeneutik etwas zur methodologischen Grundlegung der heutigen textinterpretierenden Disziplinen beizutragen haben", unter anderem also, ob hier von einer Kontinuität zur gegenwärtigen Theorie und Praxis von Verstehen und Interpretation auszugehen sei. Insbesondere die "zahlreichen Übergänge zwischen Hermeneutik und Philologie", zwischen den "Lehrstücken" einzelner als Methodologien aufgefassten Hermeneutiken und konkreten philologischen Verfahren, harren weiterhin einer systematischen Aufklärung.

Allerdings werden der Forschung im einzelnen wichtige Impulse gegeben, Details und Zusammenhänge werden erstmals geklärt, bislang unbekannte Quellen mitgeteilt, deren Erschließung dank des zuverlässig zusammengestellten Personenregisters keine Schwierigkeiten bereitet. Dies alles ist gemessen am sonst Üblichen nicht hoch genug zu schätzen. Manche Beiträge, so vor allem der voraussetzungsreiche, schwer verständliche Aufsatz Axel Bühlers zur "Funktion der Autorintention bei der Interpretation", sind überdies im besten Wortsinn kontrovers und laden zur kritischen Auseinandersetzung ein.

Weit wichtiger ist demgegenüber der wissenschaftspolitische Kontext, in dem der Sammelband zu sehen ist. Mit ihm wird eine Publikationsreihe eröffnet, Historia Hermeneutica betitelt, deren ambitioniertes Anliegen es ist, "durch Editionen, quellenerschließende Untersuchungen sowie historisch-systematische Rekonstruktionen Lücken zu schließen und die wissenschaftsgeschichtliche Forschung im Feld der Hermeneutik zu konzentrieren". Als verantwortlicher Reihenherausgeber firmiert - und dies garantiert höchste Qualität der einzelnen Veröffentlichungen - der vermutlich weltweit beste Kenner der Materie: Lutz Danneberg. Als zweiter Band der Reihe ist 2006 Thomas Tilmanns Abhandlung "Hermeneutik und Bibelexegese beim jungen Goethe" erschienen, im April endlich wird die gewichtige Berliner Dissertation Carlos Spoerhases unter dem Titel "Autorschaft und Interpretation. Über die Grundlagen einer methodischen Hermeneutik" vorliegen, von der in systematischer Hinsicht gerade mit Blick auf den Konnex zwischen Hermeneutik und Philologie viel zu erwarten ist. Auch eine Studie zur frühneuzeitlichen Entwicklung der Textkritik (ars corrigendi) ist angekündigt. Flankiert werden die Publikationen der Reihe von den breit gefächerten Aktivitäten der ebenfalls von Danneberg geleiteten Forschungsstelle Historische Epistemologie und Hermeneutik (FHEH) am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin, deren Tätigkeitsfeld sich auf nahezu alles erstreckt, was für Wissenschaftsgeschichte und Theorie - kurz: die Grundlagenforschung - im weitesten Sinne "philologischer" Disziplinen Relevanz besitzt. Im institutionellen Rahmen der FHEH wie auch der Historia Hermeneutica werden sukzessive, so ist zu hoffen, klaffende Lücken im großflächigen Mosaik der Hermeneutikgeschichte geschlossen, damit diejenigen Steinchen entfernt werden können, die hier beim besten Willen nicht (mehr) passen wollen.


Titelbild

Jörg Schönert / Friedrich Vollhardt (Hg.): Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen.
De Gruyter, Berlin 2005.
490 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-10: 311018303X

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