Kultur, nicht Biologie

Über Wulf D. Hunds Beitrag zur Analyse des Rassismus

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was noch vor einer Generation fast jedem als wesenhaft erschien, ist von der modernen Sozialwissenschaft zur Konstruktion herabgestuft. Früher konnten Männer und Frauen den vorgeblichen Gesetzen ihres Geschlechts folgen oder sie verfehlen; die Unterscheidung von sex und gender erlaubt es nun, das historisch Gewordene dieser Regeln zu verstehen. Nationen gelten nicht mehr als der staatgewordene Ausdruck eines seit urgeschichtlichen Zeiten Vorhandenen, sondern sind als "vorgestellte Gemeinschaften" erkannt. Auch Rassen sind nichts, was die Biologie einfach entdecken könnte, sondern eine Erfindung derjenigen, die als von Natur aus überlegen sich zu inszenieren ein Interesse hatten.

Es handelt sich also in keinem Fall um bloße Sprachspiele. Die Konstruktionen entsprachen stets den Machtverhältnissen, und mit ihrer Hilfe wurden soziale Realitäten geschaffen, die wiederum die Ideologien zu bestätigen schienen. Nationalstaaten kämpften gegeneinander, Frauen verhielten sich zumeist wie Frauen, die dunkleren "Rassen" fanden sich unten. So wird ein Paradox möglich: Zwar gibt es keine Rasse, aber es gibt Rassendiskriminierung - und, als deren Folge: dass, wie in den USA, gerade jahrhundertelang Diskriminierte die Einteilung in Rassekategorien befürworten, um so im Zuge der affirmative action als Ausgleich verbesserte Chancen zu erkämpfen.

Das mag praktisch wirksam sein; solange nichts Besseres in Sicht ist, sei jedem seine gerechte Chance gegönnt, sich in der Marktwirtschaft zu positionieren. Systematisch aber bedeutet es ein Problem, auf das Wulf D. Hund als Autor eines Buchs zur Rassismusanalyse auch hinweist: Wenn es keine Rasse gibt - was wird dann durch Rassismus unterdrückt? Um die Frage zu beantworten, greift Hund einen Gedanken der neueren Rassismusforschung auf, wie er etwa von Étienne Balibar entwickelt worden ist: Der moderne Rassismus setze nicht mehr explizit auf Hierarchien, sondern auf kulturelle und in der Folge räumliche Differenzierung; wobei die Vertreibung der zu Fremden Erklärten freilich wiederum deren Chancen vernichte. Moderne Rassisten argumentierten mit kulturellen Unverträglichkeiten statt mit Biologie und ständen so dem überkommenen Antisemitismus nahe, der mangels körperlicher Differenzen zwischen Juden und Christen sich zuerst auf Religion, also Kultur, und erst in der Folge auf biologische Herkunft bezog.

Dieses Schema aber ist, wie Hund eindrücklich zeigt, noch das Muster der Nürnberger Rassegesetze, in denen die Religion der Großeltern im Zentrum stand und die Abstammung über zwei Generationen das Abgeleitete war. Eine jüdische Rasse konnten auch die Nazis nicht biologisch definieren. Hund, der andernorts gezeigt hat, wie auch die Hautfarbe der von Europäern vorgeblich "Entdeckten" allmählich konstruiert wurde, geht den Schritt, der angesichts der Sachlage unvermeidlich ist: Er sieht Rassismus insgesamt als kulturalistisch. Stets war es ein behauptetes Anderes als die Biologie, das Unterdrückung zu legitimieren hatte, und nicht erst heute ist der Rassismus ein Rassismus ohne Rassen.

Das stimmt und führt methodisch zu Problemen. Rassismus ist nun noch schwerer geografisch und historisch eingrenzbar und erscheint allgegenwärtig. Der einzige Weg, einer solchen Verallgemeinerung Herr zu werden, führt in die Geschichte zurück: Es wäre zu zeigen, wie jeweils völkisch aufgeladene Körperbilder mit Geschlecht, Nation, Klasse und Kultur zusammenwirkten.

Hund hebt denn auch die Notwendigkeit konkreter Analysen hervor. Er schreibt aber keine Geschichte des Rassismus, wie es dieses Konzept nahelegen würde, sondern über Rassismusanalyse überhaupt. Dabei zeigt er zunächst, wie rassistisches Denken, dem geläufigen Vorurteil entgegen, keineswegs auf drittrangige Denker beschränkt blieb, sondern gerade wichtige Philosophen der griechischen Antike und der Aufklärung wie Aristoteles oder Kant dabei mitwirkten, Rassehierarchien zu etablieren. In weiteren Abschnitten wird deutlich, wie Rasse nicht allein durch Schrift, sondern auch Bilder und durchs Zurschaustellen der zu fremd Erklärten konstruiert wurde. Zur Geschichte des Rassismus gehören auch Projektionen wie die exotistische Vorstellung von glücklichen, vorzivilisatorischen Inseln und der Naturzustand, der in der Vertragstheorien vieler europäischer Vorstellungen von Gesellschaft eine große Rolle spielte.

Überzeugend sind die Abschnitte, die einerseits die Fixierung des biologistisch argumentierenden neuzeitlichen Rassismus auf Reinheit wie auch andererseits seine kulturalistische Flexibilität, falls Biologie einmal zu einem unerwünschten Ergebnis führt, zeigen. Eine Hierarchie von "Rassen" kann allerdings nicht nur durch ein politisches System befördert werden, das auf Absonderung zielt, sondern auch durch eine Politik, die der Realität entgegen die Gleichheit Aller behauptet und so konkret notwendige Schritte zur Gleichheit für überflüssig erklärt. Am Beispiel Brasilien demonstriert Hund zudem ausführlich, wie gerade die Vertreter einer multi-rassischen Nation in ihren Schriften Rassenstereotype reproduzieren.

Recht skizzenhaft geraten sind dagegen jene Abschnitte, in denen Hund das Verhältnis des Rassismus zu anderen Abwertungspraktiken schildert. Als Folie nimmt er den kulturalistischen Rassismus par exellence, den Antisemitismus, in dem sich Biologie, deformierter Klassenkampf und Geschlechterdiskurs überkreuzen. Doch schon hier wirkt die Darstellung flüchtig: So richtig es ist, dass Juden Verweiblichung zugeschrieben wurde, so sehr wirkte auf der anderen Seite das Klischee des geilen Verführers und Verderbers reinblütiger Frauen. Erst dieses Ineinander widersprüchlicher Vorstellungen - wie auf der Ebene der Klasse die sinnwidrige Idee, sowohl die Wallstreet als auch der Bolschewismus wären Bestandteile derselben jüdischen Weltverschwörung - erklärt die Wirkungsmacht einer Weltanschauung, die unbekümmert um jede Logik für jede Erscheinung immer denselben Schuldigen präsentierte.

Allzu kurz geraten sind dann auch die Darlegungen zu Rasse und Geschlecht. Zwar nimmt Hund richtig den Widerspruch zwischen der Libertinage, die den unterlegenen "Rassen" zugeschrieben wurde, und der Verweigerung gängiger patriarchaler Geschlechterrollen wahr. Doch ob sein Schlagwort der "Desexualisierung" dieses Verhältnis erfasst? Ob gar, wie Hund es versucht, komplexe literarische Werke wie de Sades "Philosophie im Boudoir" auf diese Weise zu erfassen sind? Dort wird zwar, wie zutreffend zitiert, über die Parallele von Frauen und niederen Rassen geschwätzt, doch gehören zu den adligen Libertins, die schrankenlose sexuelle Macht ausüben und einen männlichen Diener gebrauchen, eben auch Frauen, so dass sich verschiedene Hierarchien überkreuzen.

Die Ausführungen zu Rasse und Klasse sind teils instruktiv, teils wieder flüchtig; wohl kaum sind die Ausführungen Nietzsches, der offen einem Klassenrassismus huldigt, mit der Kritik des jungen Engels', der die Ausgebeuteten in einem Vergleich wie eine andere Rasse der triumphierenden Bourgeoisie gegenüberstellt, auf einer Ebene zu zitieren. Die Ausführungen zum gerade aus deutscher Perspektive wichtigen Aspekt Rasse und Nation bringen nur einige nicht systematisierte Einzelbeispiele, der Teil zum Verhältnis von Rasse und Kultur bringt auf wenigen Seiten eher disparates Material zum Mythos vom Ariertum. Allzu knapp sind auch die nur vier zudem ausführlich mit Beispielen illustrierten Seiten zu älteren und aktuellen Diskussionen um Erbgut und Eugenik.

Das ist freilich dadurch begründet, dass nicht Biologie, sondern Kultur den Kern von Hunds Verständnis von Rasse und Rassismus ausmacht. Dabei geht er zu Recht davon aus, dass nicht eine kulturelle Differenz als solche oder irgendeine Urangst vor einem Fremden, sondern die Hierarchisierung von Gesellschaften zum Rassismus führt. Im konzisen Schlusswort führt er zudem aus, wie die Begründung von Herrschaft durch und auf einer solch fragwürdigen Überlegenheit dazu führen muss, dass die Herren sich unsicher fühlen. Erst in der Folge kommt es zur Verlagerung des Kampfes nach innen: "Die Vermittlung von Identität auf Kosten und zu Lasten anderer [...] zieht die nach außen behauptete Grenze zur Minderwertigkeit als flexible Sollbruchstelle gleichzeitig ins Innere der Gesellschaft ein." Erbkrankheiten, Asozialität, Arbeitsscheu - das sind die fixen, leider nur allzu aktuellen Ideen in solchen Gesellschaften.

In der Tat handelt es sich um eine "negative Vergesellschaftung", wie sie Hunds Titel ankündigt. Hier freilich kippt die Beschreibung in eine Wertsetzung; wer von negativer Vergesellschaftung schreibt, muss eine positive Variante wenigstens für denkbar halten. Deshalb befremdet, wie wenig Hund vom Zeitalter der Aufklärung und von jeder Geschichtsphilosophie hält. Der Abschnitt, in dem Kant als Rassedenker seine verdiente Abfertigung erfährt, ist schlicht mit "Lumière" überschrieben, als habe das 18. Jahrhundert in dieser Hinsicht nicht auch Besseres zu bieten. Hegel kommt nicht besser weg, und noch Marx wird beschuldigt, den "Telos des Fortschritts" nicht verabschiedet zu haben.

Das stimmt, und spricht nicht gegen Marx. Denkt man nicht in Kategorien des Fortschritts, so lässt sich nicht begründen, was am Rassismus eigentlich schlecht sein soll, solange er nur eben der eigenen Gruppe nützt. Für Hund, der Rassismus überzeugend auf Kultur zurückführt, mag Marx' Bewertung nicht konkurrenzfähiger Kulturen als rückständig in den Bereich des Rassismus rücken. Doch zeigt sich eher Marx' realistischer Blick sowohl auf die Gewalt, auf die auch die traditionellen Gesellschaften seiner Zeit - und unserer - gegründet waren und sind, als auch auf die Entwicklungsmöglichkeiten, die angesichts der frühen Globalisierung Mitte des 19. Jahrhunderts überhaupt blieben. Der Weg zurück war schon damals versperrt. So blieb und bleibt nur der Weg nach vorn, durch die Zerstörungen der Moderne hindurch, zu einer individuellen und gesellschaftlichen Freiheit, aus deren Perspektive allein man Rassismus erst kritisieren kann.

Denn auch aus einer solchen Geschichtssicht lässt sich die Konjunktur eines biologistischen Rassismus seit dem späten 18. Jahrhundert interpretieren: als Krisen- und Abwehrsymptom angesichts eines Geschichtsdenkens, das erstmals die ganze Menschheit statt die Interessen einzelner Religionen, Stämme oder Dynastien in der Blick nimmt. Seit der Aufklärung muss die Gewalt, die vorher selbstverständlich war, aus der Perspektive irgendeines Fortschritts begründet werden. Das führt zu neuen, schrecklichen Ideologien, aber auch erst zu den Brüchen, an denen Hund heute ansetzen kann.


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Wulf D. Hund: Negative Vergesellschaftung. Dimensionen der Rassismusanalyse.
Westfälisches Dampfboot Verlag, Münster 2006.
210 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3896916343
ISBN-13: 9783896916341

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