Homo homini lupus

Zur deutschen Erstveröffentlichung von Gisela Elsners "Heilig Blut"

Von Annika NickenigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annika Nickenig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Halali" lautete ein möglicher Titelvorschlag für Gisela Elsners Roman "Heilig Blut", dessen erste deutsche Publikation, in eher gras- denn jagdgrüner Ausstattung, nun im Berliner Verbrecher Verlag vorliegt. Zu Lebzeiten der Autorin von mehreren Verlagen als 'literarisch misslungen' abgelehnt, existierte der Text bislang nur als "Chailigbljut" im Moskauer Raduga Verlag.

Das simpelste Porträt der in "Heilig Blut" versammelten Figuren liefert der Roman selbst, in Form der Tagebuchaufzeichnungen des jungen Gösch: "Man kann Lüßl, Hächler und Glaubrecht nur ertragen, wenn man sie als Spottfiguren betrachtet. Lüßl, Hächler und Glaubrecht zeigen, seitdem sie bedingt durch die Einsamkeit dieser Gegend der Kontrolle der bürgerlichen Gesellschaft weitgehend entzogen sind, in zunehmendem Maße eine Neigung zur Unmenschlichkeit, die sie gemeingefährlich macht." Kein besonders analytischer Blick ist vonnöten, um die Eigenschaften und Beziehungsstrukturen der betagten Herren derart zu skizzieren. Allzu offensichtlich präsentieren sich ihre traditionalistischen und revisionistischen Denk- und Verhaltensweisen dem jungen Gösch im Laufe des gemeinsamen Jagdhüttenaufenthalts. Aus zunächst unerfindlichen Gründen verbringt dieser anstelle seines Vaters mit den drei Herren den alljährlichen Winterurlaub, in dem traditionell die guten alten Zeiten, was diejenigen vor 45 sind, nostalgisch erinnert werden. Man ist noch immer stolz darauf, sich "seinerzeit so tapfer mit dem Iwan geschlagen" zu haben.

Als allenthalben analytisch erweist sich der Text dabei in der präzisen Darstellung der Figuren und ihrer faschistoiden Weltsicht. Diese offenbart sich unverhohlen in den Äußerungen und Handlungen der Figuren: so werden Lüßls moralische und argumentative Makel regelmäßig auf seine unerfreuliche 'Abstammung' zurückgeführt, und zu seinem größten Unbehagen wird er von den wachsamen Kameraden stets darauf aufmerksam gemacht, wenn der 'Vierteljude' in ihm wieder einmal drohe, die Oberhand zu gewinnen. Glaubrechts körperliche Schwäche unterdessen wird zum Gegenstand erbarmungsloser Verhöhnung: "Schlapp machen gibt es bei uns nicht." Und betont freimütig äußert Hächler seine Lebensansichten gegenüber einem behinderten Mädchen: "Mißgeburten wie dich müßte man in aller Stille mit einer Spritze ins Jenseits befördern." Bei der Reise nach Heilig Blut und in die umliegenden Ortschaften mit ähnlich sprechenden Namen wie Hatzhofen oder Hundshaupten herrscht unverkennbar das Recht des Stärkeren. Der im Wechsel auserkorene Schwächste bewirkt den unnachgiebigen Zusammenhalt der jeweils anderen und fordert ihre ungefilterte Verachtung heraus.

Der sich zusehends unbehaglich fühlende junge Gösch ist bereits aufgrund seiner Eigenschaft als Wehrdienstverweigerer auf der anderen Seite des Gewehrlaufs positioniert und wird zur permanenten Zielscheibe des Spotts. Auch sein verzweifelter Verweis auf den geleisteten sozialen Ersatzdienst ruft nur die Ressentiments seiner Mitreisenden hervor: "Das ist Weibersache", "Dazu sind Türken, Griechen, Jugoslawen, Marokkaner und Tunesier da", "Die gesunden jungen deutschen Männer, die lieber Bettschüsseln leeren, Greisen die kotverschmierten Gesäße säubern und stinkenden Müll in Plastiksäcke füllen, statt zu den Waffen zu greifen, öffnen dem Kommunismus Tür und Tor."

Neben der unverblümten Artikulation misogyner, rassistischer und antikommunistischer Meinungen ist es aber vor allem die Gedanken- und Argumentationsführung der Figuren, die in einer Mischung aus Ausweglosigkeit und Indifferenz eine totalitäre Weltsicht evoziert und zugleich die völlige Austauschbarkeit des Einzelnen. Die erbarmungslose Rationalität und Iterativität der Rhetorik schlägt bisweilen in ihr absurdes Gegenteil um, so auch in der kafkaesk anmutenden Notburger-Episode. Hier wird die vorherrschende Thematisierung faschistischer Denkweisen durch eine antikapitalistische Analyse erweitert: der in seiner eigenen Vorstellung zum endlosen Schraubenzählen abgestellte Buchhalter Notburger wird an der Diskrepanz zwischen offensichtlicher Sinnlosigkeit seiner Arbeit und übersteigerter Gewissenhaftigkeit buchstäblich verrückt.

An der Nebenfigur Ockelmann offenbart sich das eigentlich Thema des Textes, das der Jagd. In diesem Motiv fließen, wie die Herausgeberin Christine Künzel im Nachwort beschreibt, Nationalsozialismus und Katholizismus zusammen. Das Thema der Jagd eignet sich zudem zur kontrastiven Darstellung von Blut und Gewalt, rauer und religiös geprägter Lebensweise, reaktionären und nationalistischen Denkstrukturen, fassadenhafter Idylle und realer Grausamkeit. Die eigentliche Verfolgung nun ist nicht auf das entlaufene Rudel Wölfe angesetzt, sondern, in perspektivischer Verschiebung, auf den verschwundenen und offenbar suizidalen Freund und Unternehmer Ockelmann. Das dramatisch-hoffnungslose Unterfangen verdankt seinen satirischen Charakter dem Umkippen ins Groteske. Der von seinen Freunden Gesuchte ist seinerseits auf der Jagd nach den Wölfen mit dem Ziel, deren Beute zu werden, was zu allgemeinem Herumirren führt: "Weil sie [die Wölfe] dauernd in Bewegung seien, bestände die Gefahr, daß er bei seinem Pech immer erst dann an einem Ort in Erscheinung trete, wenn sie ihn längst verlassen hätten, oder daß er sich fortwährend von Orten entferne, denen sie sich gerade näherten. Als er aufgebrochen sei, habe er geglaubt, daß er recht rasch von Wölfen gehetzt werden würde. Jetzt habe er hingegen das Gefühl, daß er weder die Rolle des Gejagten noch die Rolle des Jägers spiele."

Die Strategie der Verschiebung lässt sich zudem als das zentrale Wesensmerkmal des Textes bestimmen. Neben dem Wechselspiel mit den Positionen von Mensch und Wolf, Jäger und Gejagten, das Künzel als Verarbeitung des Hobbes'schen Verdikts deutet, wonach "der Mensch dem Menschen ein Wolf sei", gibt es eine Reihe weiterer Verwechslungen und Verschiebungen, die zumeist über die Verwendung von Leerstellen funktionieren. So wird kriminelles Verhalten des abwesenden alten Gösch nur angedeutet. Jedoch lassen die Struktur des Romans und die Selbstverständlichkeit, mit der die Herren nach Beseitigung der Spuren ihrer Mordtat ihren Urlaub beenden und (ein wenig zittrig noch, aber selbstbewusst) zur Normalität zurückkehren, ahnen, dass der alte Gösch auf vergleichbare Weise braunen Dreck am Wanderstecken hat. Das zufällige kleine Verbrechen verweist en miniature, in grotesker Verschiebung, auf die planmäßig ausgeführten großen Verbrechen der nahen Vergangenheit. Die Verhaltensweisen der Figuren im Anschluss an den versehentlichen Totschlag sind auf das Verhalten ehemaliger Kriegsverbrecher übertragbar, etwa der moralische Konflikt Glaubrechts angesichts seiner Mitwisser- und damit Mittäterschaft und seine Entscheidung zur kameradschaftlichen Loyalität.

Diese zu erlernen ist vielleicht eines der Anliegen gewesen, den jungen Gösch nach Heilig Blut zu schicken. Der Jagdurlaub ist angelegt als "regelrechte Bewährungsprobe" und als Weitergabe des Ideals kameradschaftlichen Zusammenhalts an die nächste, 'verweichlichte' Generation. Dieses Projekt scheitert doppelt. Zum einen, da die Herren nur im Falle von Gewalt gegen Außenstehende tatsächlich zusammenhalten und ansonsten Aggressionen bereitwillig untereinander austeilen. Zum andern, da der junge Gösch den Urlaub nicht überleben wird.

Auch in seiner dezidierten Opferrolle dient der junge Gösch jedoch kaum dem kritischen Blick auf die anderen. Er bildet keine positive Gegenfigur, sondern ist das, was Theodor W. Adorno einen autoritären Charakter nennen würde, ein recht mickriger Mitläufer. Mit der "Sturheit eines subalternen Befehlsempfängers" lässt er die Reden und Taten der Altnazis über sich ergehen, ohne sich ihnen oder seinem eigenen Schicksal zu widersetzen. Was der Text an kritisch-analytischem Blick leistet, das lässt der junge Held vermissen.

Zuletzt wird sein einziger kümmerlicher Widerstand und seine verzweifelt-aufmüpfigen Tagebuchaufzeichnungen gemeinsam mit seinem Leichnam hinter einer Zwergkiefer verscharrt: "Ich werde froh sein, wenn ich den Urlaub in Heilig Blut hinter mir habe".


Titelbild

Gisela Elsner: Heilig Blut. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2007.
250 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783935843829

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