"Multiple family households"

Ein historischer Überblick verortet die europäische Familie zwischen Recht und Gefühl

Von Roman LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im renommierten Handbuchsegment des Alfred Kröner-Verlags wurde mit der "Geschichte der Familie" eine neue Reihe "Europäische Kulturgeschichte" eröffnet, herausgegeben vom Trierer Historiker Andreas Gestrich, der zusammen mit dem Münchner Historiker Jens-Uwe Krause und dem Wiener Wirtschafts- und Sozialhistoriker Michael Mitterauer auch den ersten Band verfasst hat. Kaum ein Thema wäre geeigneter gewesen als Einstieg in eine kulturwissenschaftliche Reihe als die Familie, die 'naturgemäß' am Schnittpunkt zahlreicher gesellschaftlicher Systeme steht.

Ihre Geschichte haben die drei Autoren zunächst einmal grob gegliedert in die drei Entwicklungsstadien Antike, Mittelalter und Neuzeit. Die weitere Binnengliederung ist von der Unterscheidung zwischen der "Verwandtschaftsfamilie" und der "Haushaltsfamilie" geprägt, das heißt zwischen Fragen nach Erbfolgeregelungen und der Definition von Verwandtschaftsgraden einerseits und Fragen nach Organisation und Funktion von Ehegemeinschaften andererseits. Letztere galt in der Antike als Fundament des Staates. Die Polis setzte sich zusammen aus den "Oikoi", den Häusern als politisch-sozialen Einheiten, die alle Personen umfassten, die in ihnen wohnten, Sklaven inbegriffen. Diese Haushalte zeichnet das Handbuch zugleich auch in ihrer ökonomischen wie kultischen Funktion nach und stellt Vergleiche zwischen der Machtposition des Athener "Kyrios" und seinem römischen Äquivalent, dem "pater familias" an. Aus der Fülle des Wissenswerten sei hier nur eine römische Sitte erwähnt, die eine archaische Vorform der zivilisierten "Babyklappe" darstellt: Ungewollte Kinder wurden an Wegkreuzungen oder Tempeln ausgesetzt, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass das Kind auch gefunden werde. Über diesen Weg sicherte sich die Gesellschaft den Nachschub an Sklaven.

Ab dem Mittelalter beginnt sich die Familie in Europa auf ihre heute noch vorherrschende Formation hin zu verändern, wobei insbesondere das Verwandtschaftssystem Transformationen durchlaufen hat, über deren Motivation offenbar Unklarheit herrscht. Michael Mitterauer skizziert den diesbezüglichen Streit zwischen Sozialanthropologen und Mediävisten, die entweder das feudale Lehenswesen oder das Christentum als prägende Kraft favorisieren. Weil sich das Handbuch nicht nur als bloßes Nachschlagewerk versteht, sondern vor allem auch als Forschungsbericht, findet sich der fachfremde Leser gelegentlich inmitten fachinterner Diskussionen, wie etwa über die Schwierigkeit, die Entwicklung der Verwandtschaftsfamilie adäquat zu beschreiben: Die "Zusammenhänge zwischen transhumaner Weidewirtschaft, männerrechtlicher Ordnung, Patrilinearität und bifurkal-kollateraler Verwandtschaftsterminologie" seien "höchst kompliziert". Nicht weniger einfach scheint die wissenschaftliche Erfassung der mittelalterlichen Haushaltsfamilie zu sein, da die zur Verfügung stehenden Typisierungsbegriffe nur für Familienformen der Neuzeit sinnvolle Kategorien lieferten, die da - very impressively - lauten: "multiple family households", "extended family units", "simple family households", "no family households", "solitaries". Eines ist jedoch gewiss: Das Familienmodell des Mittelalters war prinzipell "gattenzentriert" und "domozentrisch".

Das gilt freilich auch für die Neuzeit. Gleichwohl ist ein Funktionswandel der Familie auszumachen, der gemeinhin als Effekt der Industrialisierung beschrieben wird: Sobald die Familie nicht mehr in erster Linie als Produktionsverbund funktioniert, wird sie zunehmend zum Hort des Privaten und Intimen. Aus der feministischen Geschichtswissenschaft kommt aber laut Andreas Gestrich der ernstzunehmende Hinweis, dass die Hausarbeit der Frau durchaus noch zum Produktionsverhältnis zu rechnen ist, in dem der Mann außer Haus stand. Die Regentschaft des Mannes hat immer wieder - auch das lernt man bei Gestrich - kuriose juristische Spuren hinterlassen, wie etwa im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794: Wie lange die Mutter dem Kind die Brust reichen solle, hänge von der Bestimmung des Vaters ab. Für das 20. Jahrhundert dann wird in erschreckendem Ausmaß deutlich, wie sehr die Familie zum Ziel der Zuwendung durch Politik und Bürokratie wird, auch wenn es dabei nicht nur um disziplinierende Maßnahmen, sondern oft auch um Hilfestellungen zu emanzipatorischen Zwecken geht. An solchen Punkten macht der Band aber die Diversität Europas deutlich: Im Mittelmeerraum sei die Familie traditionell stärker vom Staat abgesondert.

Ein durchgängiges Problem der Familiengeschichtsschreibung stellt die emotionale Ebene des Themas dar. Grundsätzlich gilt, nicht nur bei der Unterscheidung von Vernunft- versus Liebesehe: "Die Gefühle eines Paares als Grundlage der Partnerwahl müssen immer im breiteren Zusammenhang sozialer Beziehungen und Strategien analysiert werden". In diesem Kontext weisen die Verfasser gerne darauf hin, wie schwierig es sei, über den Gefühlswert der Familie aussagekräftige Quellen zu finden. Da fragt man sich doch: Schon mal was von Literatur gehört? Allein die Hausväter- und Kindsmörderinnen-Dramen böten Stoff genug, um die Belletristik als Reflexionsmedium und Diskursarchiv eben solcher emotionaler (Familien-)werte zu erkennen. Die Germanistik hätte da ein paar Regalmeter zur Verfügung stellen können. Doch über den Fakultätsgraben zwischen Sozial- und Geisteswissenschaften werden hier denkbar wenig Brücken geschlagen. Das bedeutet im Umkehrschluss allerdings nicht, dass das Handbuch für Literaturwissenschaftler uninteressant wäre. Das Gegenteil ist der Fall: Wer künftig über Familienstrukturen in dichterischen Texten forschen will, der sollte zuerst einmal zur "Geschichte der Familie" greifen.


Titelbild

Andreas Gestrich / Jens-Uwe Krause / Michael Mitterauer: Geschichte der Familie.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2003.
750 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3520376016

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