Man muss stillhalten

So lautet das Credo des neuen Romans "Mittelmäßiges Heimweh" von Wilhelm Genazino

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieter Rotmund ist jenseits der 40 und steckt in einer gewaltigen Krise: Seine Ehe mit Edith ist am Ende, die doppelte Haushaltsführung zwingt ihn zum Schwarzfahren, er arbeitet als Controller in Frankfurt und muss jedes Wochenende eine weite Strecke fahren, um sein Kind zu sehen. Seine Frau macht mit einem anderen herum und er wird befördert, weil er so viel Zeit in der Firma verbringt. Das Bemerkenswerteste an dieser Figur ist die Tatsache, dass ihr direkt zu Beginn des Romans ein Ohr abfällt (Blut scheint nicht zu laufen) und etwas später auf ähnliche Weise der kleine Zeh. Die Beunruhigung löst sich jedoch auf, bis am Romanende einem kleinen Kind ein Daumen abfällt, ebenfalls ohne äußere Einwirkung. Die Spur der Katastrophe, so heißt es am Schluss, ist in der Zeitung angekommen.

Aha, denkt der geneigte Leser, Genazino in gewohnter Form. Diesmal jedoch ist es nicht ganz so, denn der Roman überzeugt nicht. Dieter ist keine Randfigur der Gesellschaft, sondern steht mittendrin. Das Herumstreifen durch die Stadt soll ihn von seiner existentiell empfundenen Einsamkeit ablenken, er weiß nicht, wohin mit sich und dort, wo er gerade steht, ist ihm unwohl. In seinem Leben ist nichts richtig, er bemüht sich durch eine Haltung der Gewöhnung darum, dass es irgendwann richtig wird. Diese Gewöhnung vollzieht er durch Stillhalten. Er agiert nicht, seine Handlung bleibt Reaktion auf das ihn Umgebende.

Als "Leidensdarsteller" bezeichnet der Autor in einem Interview Menschen, die auf ihre Einschränkung angesprochen werden wollen, um darüber sprechen zu können. Zu ihnen gehört Dieter nicht, denn er will über seine Verluste nicht reden. Trotzdem ist diese Figur ein Leidensdarsteller par excellence, dessen Geschichte aber erst im letzten Drittel an erzählerischem Schwung gewinnt. Bis dahin begleiten wir Dieter bei seinem langweiligen, tristen Leben zwischen Frankfurt und dem Schwarzwald (bis zur Trennung von seiner Frau) und ins Büro.

Natürlich könnte man sagen, dass der Autor es auch diesmal wieder hervorragend geschafft hat, das Thema in Sprache umzusetzen. Und natürlich besticht der Text auch wieder durch präzise Beobachtungssentenzen, aus denen Genazino Atmosphäre, Charaktere und Befindlichkeiten zusammensetzt. Aber der gerühmte Genazino-Humor verläuft sich in Banalitäten, wenn der Protagonist statt "Vogt & Partner Rechtsanwälte" liest: "Votze & Partner Fickanwälte". Und ebenso kommt die Geschichte nicht richtig voran, sie steht ähnlich unschlüssig herum wie der Protagonist, das zur Schau gestellte Mittelmäßige verbindet beides.

Es ist deutlich: Der postmoderne Bruder von Abschaffel hat sein Ziel (noch?) nicht erreicht. Es scheint, dass er zum Ende des Buches zumindest gedanklich aus seinem Stillhalten heraus will, wenn er überlegt, ob jetzt die Katja-Phase in seinem Leben anfängt (Katja ist eine Schuldnerberaterin, die er kennen lernt und die ihm gefällt). In der "Liebesblödigkeit" konnten wir die Krisenentwicklung und -auflösung des Seminare über Apokalypse gebenden Erzählers noch mitverfolgen, hier bleibt die Figur in der Krise stecken.

Da stellt sich die Frage, ob Genazino in Dieter Rotmund vielleicht den Typ des postmodernen Mannes porträtiert. Schaut man genauer hin, trifft diese Vermutung nicht zu, denn Dieter weiß sich seiner Ehefrau gegenüber zu behaupten, wenn es um die Finanzen geht, er löst das gemeinsame Konto auf und legt sich ein eigenes an. Er benimmt sich im Grunde ganz traditionell, geht in den Puff, legt der Bekannten, die ihn regelmäßig fellationiert, jedes Mal dezent 100 Euro in die Handtasche, und hofft auf Erlösung durch eine Frau: "Gleichzeitig weiß ich, daß ich absterben werde, wenn ich mich nicht in eine neue Frau einwurzeln kann."


Titelbild

Wilhelm Genazino: Mittelmäßiges Heimweh. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2007.
188 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446208186

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