Der Schlusspunkt als Fluchtpunkt

Axel Schmolke untersucht die Entstehungsgeschichte von "Abschied von den Eltern"

Von Yannick MüllenderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yannick Müllender

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dem kürzlich veröffentlichen "Kopenhagener Journal" notiert Peter Weiss in Bezug auf den Abschluss der Schreibarbeit an "Abschied von den Eltern": "Es könnte auch noch einmal geschrieben werden, dann würde es ein ganz anderes Buch." Ein ungemein differenziertes Bild der rund zehnjährigen Entstehungsgeschichte dieser Erzählung vermittelt die 2006 an der FU Berlin vorgelegte Dissertation von Axel Schmolke. Seine Untersuchung bezieht erstmals sämtliche Fassungen, Entwürfe und Notizen in eine minutiöse Textanalyse ein. Sie enthält eine Fülle von teilweise neuen biografischen Informationen und präsentiert in einem umfassenden Anhang Auszüge aus bislang nicht publizierten Materialien.

Im ersten Kapitel der Studie werden die Quellen, die Schmolke im Peter-Weiss-Archiv der Berliner Akademie der Künste und im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg erschlossen hat, sorgfältig beschrieben, anhand eines Stemmas in ihrer genetischen Verwandtschaft dargestellt und in einer chronologischen Tabelle übersichtlich angeordnet. Die Grundlage der vergleichenden, streng textimmanenten Strukturanalyse im zweiten und im dritten Kapitel bildet die späteste, publizierte Textfassung. Die Entscheidung für diese Version als Ausgangspunkt der Untersuchung drückt eine eindeutig wertende Präferenz aus: Die ihr vorangehenden Entwürfe erscheinen beim Variantenvergleich nicht als gleichwertige ästhetische Gebilde, sie werden immer auf die Endfassung hin gelesen und ausgewertet. Indes rechtfertigt die Zielsetzung der Arbeit, die in erster Linie "eine Lektüre der publizierten Version im Licht ihrer unpublizierten Varianten" anstrebt, diese Auswahl durchaus.

Ausgehend von der Endfassung werden zunächst Umwandlungen in der formal-narrativen Gestaltung sowie thematisch-inhaltliche Modifizierungen sehr genau herausgearbeitet. Die späteste Textversion unterscheidet sich von den früheren Varianten im Wesentlichen durch ihre explizit retrospektive Anlage. An der rückblickenden Struktur macht Schmolke eine dreifache Abstufung der (erzählenden und erzählten) Ich-Instanzen evident, die er über die Begriffe "Extra-, Intra- und Metadiegese" kategorisiert. Die formal erzeugte Stimmenvielfalt relativiere sowohl die Erzählinstanzen samt Erinnerung und Diskurs als auch die Identität der Ich-Instanzen. Neben dieser Differenz markiere die polyphone Struktur jedoch gleichzeitig eine Identität des Ichs, etwa durch Interferenzen beider Erzählstimmen und die Ringkomposition der Narration. Die Erinnerung des Zurückblickenden strukturiere neben dem Diskurs auch die Geschichte, die über kohärenzstiftende Wendepunkte, wie Todeserfahrungen und Wiedergeburten, einen Entwicklungsprozess des Protagonisten zeige.

Schmolke macht deutlich, wie Weiss diesen Prozess der Emanzipation und Bewusstseinsbildung, der sich in den vorangehenden Versionen nur schwach andeutet, in der Buchfassung ins Zentrum rückt: "Infolge der Modifikationen an den Wendepunkten vollzieht sich die in den früheren Varianten rudimentär vorhandene Entwicklung in Abschied nicht nur ausgeprägter, sondern auch gestufter und differenzierter." Prägenden Einfluss übe, laut Schmolke, der in Diskurs und Geschichte gleichermaßen angelegte Entwicklungsgedanke außerdem auf die Raum-Zeit-Struktur der Buchfassung aus. So belegt er unter anderem mittels der Orts- und Zeitangaben eine bedeutsame strukturelle Differenz zwischen den Episoden in Deutschland und denen im Exil: während erstere weder räumliche noch zeitliche Verortungen enthalten und in einer diskontinuierlichen Erzählweise verlaufen, wird die Außenwelt ab dem London-Aufenthalt expliziert und chronologisch geschildert. Von der raum-zeitlichen Konkretisierung schlussfolgert er auf ein "Sich-Freikämpfen des Protagonisten, das sich ab Berlin/London nach außen zu richten beginnt".

Eine solche dynamische Bewegung von innen nach außen findet er in der narrativen Raum-Zeit-Gestaltung der früheren Textfassungen nicht wider. Vielmehr könne sie als ein bestimmender Grundzug der Bearbeitungstendenzen charakterisiert werden: "Alles ist auf die Präsentation des inneren Werdens und seiner Dynamik ausgerichtet". Den in die Erzählstruktur eingegangenen Entwicklungsprozess des Protagonisten untermauert die Analyse zentraler Chronotopoi, die in der Buchversion, ähnlich wie die Wendepunkte, kohärenzstiftende "Äquivalenz- und Oppositionsrelationen" bilden und das zentrale Ana-/Katabasis-Doppelmotiv zur Geltung bringen.

Die polyphone, objektivierende Diskursstruktur der Erzählung wird in einem weiteren Kapitel untersucht. Noch einmal werden alle zentralen Textabschnitte eingehend durchleuchtet, wobei Schmolke auf eine "gehaltsstiftende Bewegung in der Erzählinstanz" verweist. Die intradiegetische Stimme mit ihrer spontanen, assoziativen Erzählweise werde ab der Emigration von der reflektierend berichtenden Stimme des primären, extradiegetischen Erzählers eingeholt, aber nie abgelöst, so dass der Diskurs bis zuletzt spannungsreich bleibe. Eine solche Verschiebung stehe in einem "klar auszumachenden Wechselverhältnis" mit der Emanzipation des Protagonisten; die Stimmenvielfalt im Diskurs vollziehe dessen Befreiungsakt nach. Über einen systematischen Variantenvergleich stellt Schmolke überzeugend heraus, dass diese relativierende Polyphonie in den älteren Textanläufen nur ansatzweise gestaltet ist.

Im vierten Kapitel, dem mit knapp 300 Seiten weitaus längsten der Studie, weitet der Autor die bis dahin streng textimmanente Deutung auf Weiss' Biografie aus. Sein Anliegen ist hier, den Einfluss der Erzählstruktur auf die literarische Aneignung, Modifizierung und Fiktionalisierung des lebens- und zeitgeschichtlichen Materials zu verdeutlichen. Dezidiert wendet er sich dabei gegen die - noch in neueren Beiträgen zu "Abschied" bisweilen fortdauernde - Tendenz, biografische und literarische Daten kurzzuschließen. Sein Augenmerk richtet er zunächst auf den erzählten Zeitraum, der in Bezug auf die zuvor herausgearbeiteten Wendepunkte und Entwicklungsprozesse betrachtet wird. Hieran anschließend erörtert er den "von Abschied-Nehmen und Trennungsschmerz" eingerahmten Schreibprozess in den 1950er-Jahren.

Die Anzahl der konsultierten Quellen ist imposant: Überprüft wurden neben diversen publizierten und unpublizierten Selbstaussagen des Autors etliche Auskünfte seiner Familienmitglieder, Freunde und Weggefährten, Kollegen und weiterer Zeitzeugen. Sie reichen von Interviewaussagen, über Briefe, Notizzettel, Tagebuch-Eintragungen, Jahreskalender bis hin zu Adressbuch-Seiten. Mehrere deutsche und schwedische Zeitzeugen befragte Schmolke selbst. Beim Lesen wird deutlich, welche enorme Akribie er bei der Zusammenstellung und Auswertung des biografischen Materials an den Tag legte. Stark zur Geltung kommt dabei seine umfassende Kenntnis der schwedischen Literatur- und Zeitgeschichte. Allerdings verliert sich die Darstellung in diesem Kapitel auch schon mal im Detail und lässt bisweilen den Rückbezug auf ihr eigentliches Erkenntnisinteresse vermissen. Dies gilt vor allem für die weit ausholende Darstellung des Entstehungskontextes, bei der es oft mühsam ist, dem Verfasser zu folgen. Von großem Interesse ist der umfangreiche Anhang, der die Analyseergebnisse stützt und exemplarische Auszüge aus Textfassungen sowie Briefe und Traumprotokolle bietet; oft zweisprachig in der Übersetzung Schmolkes.

Die maßstabsetzende Text- und Variantenanalyse von "Abschied von den Eltern" überzeugt aufgrund ihrer nuancenreichen, souveränen Argumentation. Schmolke dokumentiert die Ergebnisse seiner detailgenauen Untersuchung stets am Text und vermeidet mit seiner strikt immanenten Lektüre einen simplen biografischen Reduktionismus. Der biografische Teil ist zwar weitschweifig, er besticht aber durch die Fülle von neuen Informationen und vervollständigt in vielerlei Hinsicht die bislang vorliegenden Darstellungen von Peter Weiss' künstlerischer Situation in Schweden.


Titelbild

Axel Schmolke: "Das fortwährende Wirken von einer Situation zur andern". Strukturwandel und biographische Lesarten in den Varianten von Peter Weiss´ Abschied von den Eltern.
Röhrig Universitätsverlag, St Ingbert 2006.
777 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 3861104148

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