Existenzialismus 2.0?

Verliebt in Paris: Mit ihrem ersten Roman "Die Andere" probt sich Schmerzmädchen Susanne Heinrich als gestandene Schriftstellerin

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Simone de Beauvoirs erster Roman, "Sie kam und blieb" von 1943, ist eines der fragilsten und klügsten, überhaupt der allerschönsten Bücher über Paris. Es geht um einen Freundeskreis aus jungen Künstlern am Vorabend des Krieges; es geht um Wahlverwandtschaften und Abhängigkeit, Bindung und Autonomie. Die Figuren - der erfolgreiche Theaterautor/Philosoph, die mürrische Schönheit aus der Provinz, der naive Jungreporter - hängen fest in einem Netz aus Leidenschaften und Eitelkeiten. Erzählerin Françoise, eine steife Bühnendramaturgin, verfolgt die Fäden dieses Beziehungsgeflechts mit analytischem Blick. Sie braucht 400 Seiten, bis sie begreift, dass der vertrackteste Knoten in ihrer eigenen Person liegt: Die Hölle sind nicht die anderen, sondern die eigene, ganz persönliche Schieflage zum (eigentlich banalen) Freundeskreis. Gefühle, die sie verdrängt hat, so lange es überhaupt nur ging.

Susanne Heinrich, geboren 1985, ist die ideale Frau, um einen solchen Erzählentwurf ins 21. Jahrhundert zu tragen. Mit dem Kurzgeschichtenband "In den Farben der Nacht" legte sie 2005 eine Sammlung harter, grell-geiler Befindlichkeits-Achterbahnfahrten vor, extrem stilsicher und extrem vielversprechend. Urbane junge Frauen mit uralten Seelen rauchten und fickten in WG-Zimmern und Sommerhäusern gegen ihre Entfremdungsgefühle an. Ein ganzes (so nerviges wie akutes) Mädchenprosa-Genre fand hier seinen hochpathetischen, völlig humorfreien, total bekloppt-barocken Höhepunkt: "Die Charaktere sind wie Figuren in einem Videospiel", erklärte die schwülstig zurechtgemachte Heinrich 2005 in ihrem Klagenfurt-Einspielfilmchen, "ich lasse sie aufeinander losgehen und warte ab, was passiert."

Jetzt, 2007, sind wir in Level 2 angekommen: Heinrichs überstilisierter Blick auf die Welt der de Beauvoir, Susis schwüler Sexkitsch gegen Monis tastendes Psychobabble, Existenzialismus 2.0 gegen die Beta-Version der Frauenbewegung. Fatality Mode - Round 1 - Go: "Die Andere", das ist Susanne Heinrichs erster Roman. Das Thema sind Künstler und verliebte Bohemiens, Lieben und Leiden am Montmartre, das Thema ist Bindung und Autonomie.

Im Mittelpunkt stehen zwei ehemalige Freundinnen. Die elfengleiche Schauspielerin Luna, und die trübe, spröde Marion. Beide kommen aus derselben Hamburger Jugendclique, vor sechs Jahren haben sie zusammen Goethes "Stella" inszeniert, in einem Sommer, dominiert von Lunas romantischen Eskapaden. Mittlerweile zufällig in Paris, haben die beiden erste biografische Brüche hinter sich. Marion ist frisch von ihrem Langweilerfreund getrennt, Luna läuft vor ihrem unterkühlten Ehemann und dem gemeinsamen Kind davon. Weitere emotionale Stolperfallen sind Viktor, der enigmatische Millionär mit seinen berühmten Soiréen, sowie Vanessa, der hinterhältige Vamp. Der Pariser Sommer steht vor der Tür und das Unheil nimmt seinen Lauf. Marion, die unspektakuläre Chronistin, lässt sich in Lunas Beziehungsgeflecht hineinziehen. Und verliert sich dabei zunehmend selbst.

"War es nicht so? Verbarg sich hinter dem Wunsch, neben Luna zu gehen, an ihrem Leben teilzuhaben, nicht das respektvollste und größte aller Eingeständnisse, dass nämlich Luna in ihrer blühenden Verschlungenheit mir viel weitläufiger, ausufernder, üppiger erschien als mein eigenes Wesen? Und ging damit nicht auch zwangsläufig der Wunsch einher, hinter ihr und ihrer eigensinnigen, verlockenden Welt zurückzutreten?" Aber hallo! Nachdem Heinrich in ihren 2005er-Erzählungen stets auf der Seite der abgebrühten Nachtfalter stand, erzählt sie in "Die Andere" zum ersten Mal aus der Sicht einer faden, unglamourösen Figur. Marion schwärmt seitenlang über das (leider immer nur: konstatierte, nie aber: fühl- und nachvollziehbare) Faszinosum Luna. Marion fickt nicht, raucht nicht. Marion präsentiert 278 Seiten lang tapsige, von Baudelaire-Passagen und anderem Bildungsballast zu Boden gedrückte, gewollt klassizistische Beschreibungen.

"Der Abend umfing mich, wie Düfte und Musik das konnten, ohne dass es Düfte oder Musik gewesen wären, die mich gefangen hielten. Unten lehnten Roller aneinander wie silberne Katzen, und der Mond war so hell wie die Sonne an verhangenen Tagen. Er löschte jede Angst, jedes Zaudern mit seinem kühlen Feuer, und unter gleichmäßigen Wellen seines spröden Lichts wurden selbst die Mücken in ihrem Tanz, dem endlosen Auf- und Niedersteigen an einer Schnur, zu Silber. Ich spürte etwas Weiches auf meinen Schultern." Da ist es wieder, das irritierende Kribbeln, das Susanne Heinrichs halsbrecherische stilistische Eskapaden auslösen: "Ach herrje - meint sie das ernst?"

Das Problem: Bei "In den Farben der Nacht" blieb die Frage nach der Intention und dem Reflexionsgrad von Heinrichs greller Welt offen. Die Texte waren entweder technisch perfekte Mädchenprosa. Oder technisch perfekter Meta-Abgesang auf Mädchenprosa. So oder so waren sie spektakulär. "Die Andere" allerdings ist entweder ziemlich doofe Pastiche, nämlich uninspirierte "Susanne Heinrich stellt sich vor, eine graue Maus zu sein"-Rollenprosa, hinter der sich dieselbe großspurige Häme und eklige Überheblichkeit verbirgt, mit der "Sex & the City"-Kuckerinnen beim Cocktailabend ihren Freundinnen erzählen, dass Simone de Beauvoir erst mit Ende 30 ihren ersten Orgasmus hatte. Oder, Möglichkeit 2: Es gibt überhaupt keinen operettenhaften, ironisch gesetzten Metakrams. "Die Andere" ist einfach nur ein exzeptionell doofer Roman.

So oder so, der Lack ist ab. Die ungeschminkte Frau auf dem Autorenfoto, die "mittlerweile in Coburg" lebt und versonnen ihre arg hohe Stirn gen Horizont runzelt, hat kaum noch Ähnlichkeit mit der polarisierenden Susanne Heinrich von 2005. Noch immer geht es um Sehnsucht und Entfremdung, und - dieses Mal in einer anstrengend feinziselierten, barocken Gestelztheit - Einsamkeit und Autonomie. Dazu ein möchtegern-existenzialistisches Geflecht aus Wahlverwandtschaften mit vielen Fäden und Schlingen und Knoten. All diese verfluchten Gefühle, niedergeschrieben, so deutlich es überhaupt nur geht. Beim Leser indes kommt nichts an.


Titelbild

Susanne Heinrich: Die Andere.
DuMont Buchverlag, Köln 2007.
278 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783832180133

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