Literatur und "Nationalcharakter"

Manfred Bellers gesammelte Studien zur literarischen Imagologie

Von Horst SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Horst Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum 70. Geburtstag des nach seiner komparatistisch-thematologischen Dissertation über "Philemon und Baucis in der europäischen Literatur: Stoffgeschichte und Analyse" (1965) zunächst als Assistent von Horst Rüdiger in Bonn wirkenden und seit 1969 erst als Lektor und später als Professor für Germanistik und Komparatistik an italienischen Universitäten (Pavia, Messina, Bergamo) lehrenden Literaturwissenschaftlers Manfred Beller haben die an der Universität Bergamo wirkenden italienischen Germanisten Elena Agazzi und Raul Calzoni unter dem Titel "Eingebildete Nationalcharaktere" Ende 2006 einen Sammelband mit insgesamt 16 Vorträgen und Aufsätzen Bellers zur literarischen Imagologie herausgegeben. Das Buch erschien also gewissermaßen anstelle einer bei einem solchen "runden Geburtstag" sonst üblichen Festschrift mit dem Jubilar gewidmeten Beiträgen von Freunden und Kollegen.

Bei allen in dem Band versammelten Aufsätzen und Vorträgen Bellers handelt es sich um zuvor bereits zwischen 1982 und 2005 in diversen Zeitschriften und Sammelbänden publizierte Arbeiten, wobei das Gros der Studien in den 1990er-Jahren erstmals veröffentlicht wurde. Die meisten Aufsätze beziehungsweise Vorträge erschienen auch bei ihrem Erstdruck in deutscher Sprache, einige ursprünglich in Italienisch, Englisch oder Französisch und werden in diesem Sammelband erstmals in deutscher Sprache vorgelegt. Fast alle Arbeiten erscheinen in inhaltlich nicht modifizierter Form, nur in Ausnahmefällen hat Beller seine alten imagologischen Studien überarbeitet beziehungsweise ergänzt.

Das Buch beginnt mit einem Vorwort von Elena Agazzi, in dem die italienische Germanistin zum einen äußerst knapp und ausgesprochen lückenhaft die Grundzüge der komparatistischen Imagologie zu skizzieren versucht und zum anderen Manfred Beller, dessen Curriculum Vitae sie zum Abschluss ihrer Ausführungen Revue passieren lässt, als einen der führenden Köpfe des imagologischen Diskurses der letzten Jahrzehnte anpreist.

Treffend konstatiert Elena Agazzi, die von Marius-Francois Guyard 1951 der Komparatistik als "domain d'avenir" empfohlene Imagologie sei "heute eine solide Branche in diesem Bereich". Als wichtige Beiträger zum Imagologie-Diskurs der letzten Jahrzehnte nennt sie neben Guyard noch Yves Chevrel, Gonthier-Louis Fink, Gustav Siebenmann, Aglaia Blioumi, Emer O'Sullivan, Daniel [sic!] Pageaux, der - so Agazzi - "als der bedeutendste französische Imagologe anerkannt ist", sowie Manfred Beller.

So wichtig und gehaltvoll die Beiträge der oben genannten Komparatisten zur Theorie und Praxis der literaturwissenschaftlichen Image-Forschung ohne Zweifel sind, so wenig kann es angehen, in einem auf wissenschaftliche Seriosität bedachten einführenden Beitrag, der die komparatistische Imagologie zu Recht als zentralen Bestandteil der Vergleichenden Literaturwissenschaft verortet, die Namen solch wichtiger und international einflussreicher Image-Forscher und Imagologie-Theoretiker wie zum Beispiel Jean-Marie Carré, Jacques Voisine, Jean-Marc Moura, Klaus Heitmann, Peter Boerner, Peter Edgerly Firchow, Nora Moll, Franz K. Stanzel, János Risz, Thomas Bleicher, Elke Mehnert und vor allem Hugo Dyserinck, sowie seine dem "Aachener Programm" verpflichteten Schüler wie Martin Steins, Manfred S. Fischer, Joep Leerssen und Karl Ulrich Syndram einfach unter den Teppich zu kehren und zu ignorieren.

Es drängt sich der Verdacht auf, als versuche Elena Agazzi mit ihrem Vorwort, den Stern Manfred Bellers am Himmel der Imagologie umso strahlender leuchten zu lassen, indem sie konsequent die für die Entwicklung der komparatistischen Imagologie wichtigen Forscher verschweigt. Vielleicht ist Elena Agazzis Vorwort zu Manfred Bellers gesammelten Aufsätzen zur literarischen Imagologie aber auch nur das traurige Beispiel eines Textes, dessen Verfasserin nur unzureichend Ahnung von der Materie hat, über die sie schreibt.

Weitaus größere Kompetenz in Sachen Imagologie als Elena Agazzi zeigt Manfred Beller in den 16 Aufsätzen und Vorträgen seines Buches, insbesondere in drei grundlegenden Arbeiten, die als Einführungen in die Problemfelder der nationenbezogenen Vorurteils- und Stereotypenforschung am Anfang beziehungsweise als eine Art Bilanz von Bellers Beschäftigung mit nationalen Images am Ende seines Buches stehen.

Bellers Aufsatz "Das Bild des Anderen und die nationalen Charakteristiken in der Literaturwissenschaft", den man als Bellers "imagologisches Manifest" lesen kann, erschien erstmals 1996 in Italien als Einleitung zu dem von ihm als Supplement zu Nr. 24 der Zeitschrift "Il contronto letterario" herausgegebenen Sammelband mit Arbeiten mehrerer Imagologie-Fachleute "L'immagine dell'altro el'identità nazionale: metodi di ricera letteraria". Der Neuveröffentlichung hat Beller einen Nachtrag hinzugefügt, an dessen Ende er dem der alten Völkerpsychologie verhafteten irrationalen Glauben an die Existenz spezifischer "Nationalcharaktere" eine eindeutige Absage erteilt.

Nationale Images seien vielmehr, so Beller, "eine Abstraktion, ein Konstrukt und Produkt unserer Einbildungskraft". Seit dem 17. und 18. Jahrhundert, schreibt Beller in Anlehnung an den in Amsterdam lehrenden Komparatisten Joep Leersen, "bezeichnet 'Nation' die kulturelle und politische Zusammengehörigkeit einer menschlichen Gemeinschaft mit der Neigung zur geographischen Umschreibung ihrer Grenzen. Zur gleichen Zeit hat auch das Wort 'Charakter' seine von Theophrast und La Bruyére geprägte Zuschreibung von Eigenschaften eines Individuums oder sozialen Typs um die psychologische Komponente der Motivation menschlichen Verhaltens und Handelns erweitert. Im Kompositum 'Nationalcharakter' wird diese psychische Disposition des Charakters vom Individuum auf das Kollektivum der Nation übertragen. Auf solcherart trügerischen Analogieschluß beruhen die generalisierenden Zuschreibungen von Eigenschaften, die als Stereotypen die 'Bilder' von sozialen Gruppen, Ethnien, Völkern und Nationen prägen".

Mit dem Verhältnis der mit literarischem Material arbeitenden Imagologie zur so genannten "Interkulturellen Germanistik" setzt sich Beller in seinem 1987 gehaltenen Vortrag "Vorurteils und Stereotypenforschung: Interferenzen zwischen Literaturwissenschaft und Sozialpsychologie" auseinander. Auf die anthropologische Relevanz imagologischer Forschung geht Beller in seinem Vortrag "Wer ist ein Barbar?" ein.

Imagologische Fallstudien bilden die übrigen 13 Beiträge Bellers. Im Mittelpunkt stehen hierbei streng genommen nicht der von einem kulturneutralen, supranationalen Standpunkt aus verfahrenden komparatistischen Imagologie, sondern einer über den nationalen Tellerrand hinaus schauenden Germanistik zuzurechnende Studien zur Goethezeit, zu imagologischen Aspekten der Reiseliteratur sowie Untersuchungen zu Italienbildern in der deutschen Literatur beziehungsweise den deutsch-italienischen Literaturbeziehungen. Zwei weitere Aufsätze beschäftigen sich mit Texten von C. Sidons (d. i. Karl Postl beziehungsweise Charles Sealsfield) und Ernesto Sábatos.

Während Beller heute (wie oben zitiert) "Nationalcharaktere" als ideologische Konstrukte durchschaut, äußert er sich in manchen der in "Eingebildete Nationalcharaktere" wieder abgedruckten Fallstudien durchaus zustimmend zum Konzept des "Nationalcharakters". Er geht an mehreren Stellen, zum Beispiel in seinen Ausführungen über Ernesto Sábatos Roman "Sobre Héroes y Tumbas", sogar so weit, ganz im Sinne der längst obsoleten Völkerpsychologie beziehungsweise Ethnopsychologie zu postulieren, man könne doch mit den Methoden der literarischen Imagologie spezifische "Nationalcharaktere" erhellen. Mit solchen Vorstellungen hinkt Beller dem Diskurs um Möglichkeiten und Grenzen der komparatistischen Imagologie um Jahrzehnte hinterher.

Beller betrachtet seine Studien im Übrigen offenbar nicht als Beiträge zur komparatistischen Imagologie, sondern spricht vielmehr - wie es im Untertitel des Buches heißt - ausdrücklich von "literarischer Imagologie". Während die komparatistische Imagologie sich von einem dezidiert supranationalen Standort aus mit Genese, Präsenz und Wirkung ethnischer Auto- und Heteroimages in einem multinationalen Kontext beschäftigt, beschränkt sich Beller in der Regel auf rein thematologische Imagestudien aus einzelphilologischer, im Falle Bellers germanistischer Sicht.

Und ähnlich wie Elena Agazzi in ihrem Vorwort zitiert auch Manfred Beller beileibe nicht alle relevanten Forscher und alle Arbeiten, auf deren Leistungen seine Überlegungen aufbauen. Viele einschlägige Arbeiten, die Beller kennen müsste, werden schlichtweg - ob aus Unkenntnis oder mit Absicht sei dahingestellt - verschwiegen, zum Beispiel die von Hugo Dyserinck und Joep Leerssen, mit dem zusammen Beller die Herausgabe eines "Imagologie-Handbuchs" vorbereitet, herausgegebene wichtige Buch-Reihe "Studia Imagologica", in der übrigens eben dieses Imagologie-Handbuch erscheinen soll.

Dass die im Anhang des Buches zu findende "Tabula gratulatoria" zu Bellers 70. Geburtstag die bescheidene Anzahl von gerade einmal 26 (vornehmlich deutschen und italienischen) Kolleginnen und Kollegen umfasst, verwundert angesichts eines solchen Gebarens nicht.


Titelbild

Manfred Beller: Eingebildete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie.
Herausgegeben von Elena Agazzi in Zusammenarbeit mit Raul Calzoni.
V&R unipress, Göttingen 2007.
278 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-13: 9783899713169

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