Schimmelnder Abwasch

"Sechshundertsechsundsiebzig Erscheinungen von Killoffer" sind sechshundertfünfundsiebzig zuviel

Von Waldemar KeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Kesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im ebenfalls im Reprodukt-Verlag erschienenen Killoffer-Comic-Band "Wie man sich bettet" befindet sich eine Episode mit dem Titel "Schmutzige Wäsche", in der der Autor seiner Freundin von der Beziehung zu seiner Mutter berichtet. Als Junge widerstrebt es ihm, seiner Verdauung unterworfen zu sein, so dass er seinen Stuhl bis zur letztmöglichen Sekunde krampfhaft zurückhält, was nicht selten zu unangenehmen Zwischenfällen führt. Die psychisch äußerst labile Mutter erliegt einmal einem Wutanfall, als es sich wieder ereignet hat und bestraft ihren Sohn damit, dass sie ihm seine schmutzige Wäsche ins Gesicht drückt und es damit völlig beschmiert. Der sich erinnernde Killoffer resümiert: "Ich weiß genau, wie sie schmeckt, meine Scheiße. Ich hab' sie gekostet." Das abschließende Panel zeigt daraufhin den entsetzten und angewiderten Ausdruck auf dem Gesicht der Freundin.

Diese gleichzeitige Zurschaustellung seiner selbst und des Ekels beim Zuhörer beziehungsweise Betrachter ist der charakteristische Zug von dem nun in Deutschland herausgegebenen Band "Sechshundertsechsundsiebzig Erscheinungen von Killoffer". Nur nimmt der Autor beide Seiten gleich selbst ein. Der sich in Montreal aufhaltende Killoffer wird von seinem Gewissen geplagt, weil er daheim in Paris den kolossalen Abwasch stehenließ und nun weiß, dass die Essensreste zu wuchern beginnen werden. In sehr weiter Assoziation wird dieses "gärende Stück" nun zu ihm selbst, was eine Vervielfältigung der Erscheinungen von Killoffer führt. Die Allegorie mutiert sogar noch zu einer Feuerbach'schen Verdauungsphilosophie: "Vielleicht sind wir dazu da, die Erde durchzupflügen, [...] den Boden zu bereiten, [...] einen menschlichen Humus für irgendwas Neues, also... Oder wir sind schlicht dabei, mit dem Mund unser eigenes Grab zu schaufeln und es mit dem Arsch zuzustopfen [...] Lebendig begraben mit der Scheiße." Glücklicherweise endet der palavernde Text bereits nach wenigen Seiten, aber leider gibt er einen Vorgeschmack auf das visuelle Geschehen. Natürlich wartet man vergebens darauf, dass das anthropologische Geschwätz in irgendeiner Dimension wieder aufgenommen wird.

Killoffer ist ein begnadeter Comic-Zeichner. Wie er die Duplikation seines Ich ins Bild setzt, ist schlichtweg meisterhaft. Aber wie der Figur in seinem Band ergeht es auch dem Künstler Killoffer: Sobald die Duplikate da sind, weiß er nichts anzufangen. Killoffer ist ein miserabler Erzähler. Er wehrt die Anmaßung solcher Maßstäbe zwar ab, indem er eine Polemik gegen "dieses Bedürfnis nach Geschichten", gegen den Wunsch nach einem "Zusammenhang" formuliert, allein er verzichtet ja selbst nicht darauf, sonst hätte er sich seine schriftstellerischen Einlassungen schenken können.

Und das Bildgeschehen folgt durchaus einem erzählerischen Kontinuum. Auch in dem von ihm gestalteten Donjon-Band brachte die Erzähl- die Bildebene um ihre Wirkung. Der Exzess, den die Erscheinungen von Killoffer herbeiführen, ist nämlich keineswegs "ein radikaler Gegenentwurf zu bekannten autobiografischen Comics", wie der Verlag behauptet. Das Ego zersplittert nicht in unterdrückte Manifestationen innerer Triebe, es bleibt immer noch der gute alte Killoffer erhalten, der all die übrigen loswerden will. Selbst wenn er drei anderen bei einer Vergewaltigung begegnet, wendet sich seine Erscheinung ab, die als Protagonist bestehen bleibt, während sich ein weiteres Abbild von ihm löst, um mitzutun. Die depravierten Erscheinungen sind nichts anderes als solche und definieren nicht die Möglichkeiten von Killoffer, sondern das, was er nicht ist. Er selbst beteiligt sich nicht an ihrer Gewalt- und Sexorgie. Dass er nach einem Massaker an ihnen auf den Leichenberg kotzt, kann man kaum als Zeichen der Selbstentäußerung sehen; es ist Abscheu ob des widerlichen Anblicks. Es ereignet sich nichts, was eine deutliche Ego-Alter-Differenz aufheben würde: Der Selbstekel ist hier kein Abgrund, der ins Selbst hineinführt, sondern provokative Oberfläche.

Dass "Sechshundertsechsundsiebzig Erscheinungen von Killoffer" auf dem Comic Festival Angoulême 2003 als bestes Comicalbum nominiert wurde, kann nur damit erklärt werden, dass ein gewisser Exhibitionismus mancherorts noch als künstlerischer Mut gilt, als ob das exzessive Zeigen von Blut, Scheiße und Sperma bereits die Offenbarung eines Innenlebens wäre. Das Motiv des gammelnden Abwaschs, das den Rahmen bildet, ist so schräg, dass es eigentlich nur als absurder Witz gemeint sein kann. Dieser Band wäre dann eine Persiflage auf Selbsterforschungsunternehmungen. Aber in diesem Fall ginge sie in Exkrementen unter.


Titelbild

Patrice Killoffer: Sechshundertsechsundsiebzig Erscheinungen von Killoffer.
Reprodukt Verlag, Berlin 2007.
48 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783938511336

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