Verwirrungen des Jünglings Mesch
Nach fast dreißig Jahren liegt Oek de Jongs Erfolgsroman "Flatternde Sommerkleider" erstmals in deutscher Übersetzung vor
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Es wäre gut, viel nachzudenken, um / von so Verlornem etwas auszusagen, / Von jenen langen Kindheit-Nachmittagen, / die so nie wiederkamen - und warum?" Über die Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit, wie sie Rilke in diesen Anfangszeilen seines berühmten Gedichts "Kindheit" beschreibt, hat der 1952 im niederländischen Breda geborene Oek de Jong offensichtlich sehr viel nachgedacht. Herausgekommen ist dabei ein ebenso virtuoser wie melancholischer Roman, der sowohl Merkmale des Adoleszenz- als auch des Bildungs- und Künstlerromans aufweist. Um so verwunderlicher ist es, dass dieser Text, der schon 1979 im niederländischen Original erschienen ist und etliche Auflagen erlebte, erst jetzt ins Deutsche übertragen wurde - zumal die Anlehnungen an deutschsprachige Adoleszenz-Literatur nach dem Muster von Robert Musils "Verwirrungen des Zöglings Törleß" gar nicht zu übersehen sind.
Aber Oek de Jong ist hierzulande bei weitem nicht so bekannt wie sein nur zwei Jahre jüngerer Schriftstellerkollege Leon de Winter, der es mit seinen Romanen auch in Deutschland regelmäßig auf die Bestseller-Listen schafft. Zudem fand de Jongs Roman "In der äußersten Finsternis" (2005) nicht nur positive Resonanz, und seine langen Schaffenspausen zwischen den einzelnen Romanen trugen auch nicht gerade zur Steigerung seiner Bekanntheit bei.
Das sollte sich mit der Übersetzung seines ersten Romans jetzt ändern. Ähnlich wie im "Törleß" werden aus der Perspektive eines Heranwachsenden die Oberfläche und Tiefenschichten des kindlichen Bewusstseins an der Bruchstelle zum Erwachsenwerden eindringlich beschrieben. Es sind zunächst körperlich-sinnliche Reize und Erlebnisse wie das hochflatternde Sommerkleid einer Nachbarin oder der nackte, sonnengebräunte Körper ihres Sohnes, die im ersten Teil des Romans bei dem achtjährigen, bis dahin auf seine Mutter fixierten Edo Mesch jene Unruhe und Unsicherheit auslösen, die überhaupt erst zum Nachdenken über sich selbst anregen. Mit der Nachdenklichkeit findet aber auch die Unbeschwertheit der Kindheit ihr jähes Ende. Immer öfter wird Edo von fremdartigen Gefühlsregungen und Vorstellungen übermannt, die in ihm zwar die Neugierde wecken, mehr über die (Erwachsenen-)Welt, ihre Mechanismen und Geheimnisse zu erfahren, gleichsam aber auch das schmerzhafte Gefühl von Hilflosigkeit und Selbstentfremdung hinterlassen. Freilich ist einem Achtjährigen nicht zuzutrauen, sich selbst eine Ich-Entfremdung zu attestieren. Aber was sich letztlich hinter solchen Begriffen verbergen kann, wird hier in einprägsamen Bildern erzählt: "Genauso bewegungslos wie der Sohn lag er auf dem warmen Kies des Daches, schauend, träumend. Und genau dort spürte er zum ersten Mal in seinem Leben dieses Unbewegliche in sich, ohne zu wissen, was es war. Mit einem leisen Plumps landete es seinem Herzen."
Konsequent werden aus der Perspektive eines verunsicherten Jungen dessen mäandernde Gedankengänge erfasst, die immer neue Variationen dieser 'Urszene' entfalten, nach der nichts mehr so ist, wie es war: "Jeden Tag hatte er nun dieses Gefühl. Das Gefühl, daß etwas in ihm wäre, etwas Unbewegliches, das ihn zu einem Stein auf dem Boden eines sprudelnden Baches werden ließ. Er wußte nicht genau, was es war, und auch nicht, wo genau es sich befand. In seinem Kopf vielleicht, dort, wo sein Gehirn steckte, das laut Enzyklopädie aus mehreren Lappen bestand. Vielleicht auch in seinem Herze, das laut seinem Vater eine Art Pumpe war. Oder in seinem ganzen Körper, wie sein Blut, das rot war, aber in dem sich laut seinem Vater auch weißes Blut befand. Es war seltsam, wenn man bedachte, daß im eigenen Körper allerlei Dinge vor sich gingen, die man nicht verstand."
Aus dieser zunächst nur durch Lexikon-Artikel bestimmten Weltaneignung wird im zweiten Teil, in dem Edos Aufenthalt als Siebzehnjähriger bei Verwandten an der Nordsee geschildert wird, ein intellektueller Wissensdrang der begleitet wird von ersten erotischen Erfahrungen mit Frauen. Gleichzeitig kann der Leser auch Edos Entwicklung zur problematischen Künstlernatur beobachten, deren Profil nicht zuletzt durch den Einsatz des inneren Monologs als introspektivischer Erzähltechnik stärker an Kontur gewinnt. "Es gibt die Ereignisse, es gibt meine Gedanken zu diesen Ereignissen, aber was sich wirklich ereignet hat, verstehe ich nicht - und das ist unerträglich. Notier dir das unterwegs."
Der Zwang, die eigenen Gefühlswelten nicht nur in Worte fassen zu wollen, sondern sie dadurch auch erklärbar zu machen, prägt auch das Liebesverhältnis zu der jungen Nina im dritten Teil, in dem uns Edo als junger Schriftsteller auf einer Bildungsreise nach Ägypten und später Rom begegnet. In der virtuosen Erzählweise mit den vielen Wechseln von Erzähltempus und -perspektive findet die Komplexität eines Protagonisten ihren sinnfälligen Ausdruck, der sich wie im zweiten Teil selbst nicht versteht, aber noch weniger anderen - auch seiner Freundin - die Möglichkeit einräumt, ihn zu verstehen. Nur selten ringt er sich zu solch zerstörerischer Klarheit durch, wie in dem Gespräch mit Nina während der Reise: "Ich tue dir, allen, ständig Unrecht. Ich sage, daß ich dich liebe, frage mich aber die ganze Zeit, wie es mit jemand anderem wäre, wie es wäre, allein zu sein. Zwei Minuten nach dem Ficken denke ich schon wieder an meine Arbeit. Schon tausendmal habe ich deinen Po rot werden sehen, aber im Zug nach Luxor sind mir dort zum ersten Mal zwei kleine braune Male aufgefallen. Ich höre dir wenig zu, ich denke zu wenig an dich. Es ist nicht gut, noch länger bei dir zu bleiben."
Sicherlich kann man der Figurenzeichnung Edos die Konstruktion nach letztlich etablierten, möglicherweise auch überkommenen Mustern des bindungsunfähigen, hypersensiblen und auf das eigene Schaffen nur fixierten Künstlers anlasten. Doch wird diese Entwicklung logisch und konsequent aus dem Romanverlauf entwickelt und aus den vielen überzeugenden Detailbeobachtungen und -beschreibungen der beiden ersten Teile gleichsam hergeleitet und rückgebunden.
Bei so viel Nachdenken über den Verlust der Kindheit als vielleicht einziger Phase uneingeschränkter Gewissheiten hätte Edo auch auf die letzte Strophe von Rilkes Kindheits-Gedicht stoßen und vor allem sich selbst und seine ganze psychische Existenz darin wiederfinden können: "Und wurden so vereinsamt wie ein Hirt / und so mit großen Fernen überladen / und wie von fern berufen und berührt / und langsam wie ein langer neuer Faden / in jene Bilder-Folgen eingeführt, / in welchen nun zu dauern uns verwirrt."