Flucht nach Hradecek

Gedanken und Erinnerungen des tschechischen Dramatikers, früheren Dissidenten und ehemaligen Präsidenten Václav Havel zu Fragen von Karel Hvížd'ala

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die vorliegenden Erinnerungen ergänzen den 1986 erschienenen Interview-Band "Fernverhör" auf eine ungewöhnliche Weise. Im neuen Buch äußert sich nicht mehr der Dissident und Bürgerrechtler Václav Havel, dessen Werke im eigenen Land auf dem Index stehen, sondern ein international geachteter Politiker im Ruhestand, der von 1989 bis 2003 Präsident der Tschechoslowakei und später Tschechiens war.

Diesen geradezu märchenhaften Wechsel in seinem Leben hat auch Václav Havel vor Augen, wenn er seine Herkunft und seinen Werdegang in sehr selbstkritischer Weise analysiert und interpretiert: "Auch mir kommt von Zeit zu Zeit mein Schicksal absolut unwahrscheinlich vor. Wie konnte es nur geschehen, daß ich - und gerade ich - mich im Zentrum so wichtiger Ereignisse befand, die das Schicksal vieler Völker und Millionen von Menschen geprägt haben? Warum mußte ich, ein Autor absurder Theaterstücke, Hunderte von solch absurden Situationen erleben, wie zum Beispiel meinen ersten Besuch im Kreml?"

Die genaue Selbstbeobachtung und das offene Gespräch darüber hatten über Jahrzehnte hinweg Václav Havels Glaubwürdigkeit ausgemacht. In den Notizen und Antworten kann der Leser an Havels Ringen um den richtigen Weg teilnehmen. Immer wieder entfaltet Havel seine Gedanken über die Geschichte und Politik seines Landes sowie Europas und scheint auch sich selbst gegenüber zu fixieren, in welcher Weise er für etwas Einstehen möchte, das er als das Notwendige erkannt zu haben meint. Havel gehört nicht zu jenen, die von ihrer Mission überzeugt sind und jede Gelegenheit nutzen, ultimative Weisheiten auszuteilen. Sein wichtigstes Instrumentarium ist die Wahrnehmung. Im Schreiben verarbeitet er dann seine Gedanken, um zum Handeln zu gelangen. Eine scheinbar nebensächliche Notiz, die Havel in den USA geschrieben hat, gibt Einblick in seine Denkweise. Er wundert sich darin über den chaotischen Straßenverkehr, der scheinbar ohne Regeln abläuft und dennoch zu keinem Kollaps führt. Havel verwendet das Bild eines Ameisenhaufens und kommt in seiner Schlussfolgerung zu allgemein philosophischen Erkenntnissen: "Alles Sein hat irgendeinen Grund und seine Ordnung, wir können sie nur nicht begreifen und werden es nie tun. Aber auch das hat offenbar seinen Grund".

Havel betont mehrfach seine Schüchternheit und er weiß von seinem Hang zur Pedanterie. Als Präsident hatte er sich zuweilen in organisatorische Vorbereitungen eingemischt und vor abendlichen Banketten das Besteck eigenhändig umgruppiert. Die Notizen und Tagebuchauszüge im vorliegenden Buch geben auch Handlungsanweisungen des Präsidenten Havel an seine Mitarbeiter in der "Burg" wieder. Da finden sich Aufforderungen zum Korrekturlesen, kritische Anmerkungen zu Dingen, die unglücklich verlaufen sind oder ein Hinweis, dass Frau Oušková wieder ein Paket seiner Hemden zum Waschen zugeschickt bekommt.

Zugleich eröffnet Havel aber auch Einblicke in politische Entscheidungen und schildert Begegnung mit tschechischen Politikern wie Václav Klaus oder ausländischen Persönlichkeiten wie Hillary und Bill Clinton. Eine besonders herzliche Beziehung pflegt er zu Madeleine Albright, der ehemaligen US-Außenministerin. Aufenthalte in den USA genießt er und ist von der "Qualifikation, Sachlichkeit und Noblesse" in der politischen Klasse der USA begeistert. Im Hinblick auf sein eigenes Land notiert Havel: "In dieser Richtung muß die tschechische Politik noch lange lernen".

Havel zitiert von Václav Cerný den Begriff "cecháckovství", der auf die "tschechische Kleinheit" hinweist. Unter ganz bestimmten historischen Umständen über Jahrhunderte hinweg entstanden, finden bestimmte Verhaltensweisen bis in die heutige Zeit ihren Niederschlag in der tschechischen Politik: "Zur tschechischen 'nationalen Ausstattung' gehört schon traditionell eine bestimmt verstärkte Vorsicht, Mißtrauen gegenüber Veränderungen, Langsamkeit, die fehlende Bereitschaft, Opfer zu bringen, Abwarten und Skepsis".

In der politischen Zukunft setzt Václav Havel seine Hoffnungen auf das europäische Projekt. Dass die Globalisierung auch Verwüstungen und Nivellierung im eigenen Land zur Folge hat, liegt nach Havel weniger an der Globalisierung, sondern wird von den Menschen selbst verschuldet. Der Einzelne steht in der Pflicht. Hier schließt sich der Kreis und erinnert an das Programm "Die Macht der Machtlosen" des Dissidenten Havel.

Bei aller Turbulenzen und Verschiebungen im Leben Václav Havels gibt es auch Beständiges. Ab und an, wenn sich keine Auswege zeigen und die Selbstzweifel überhand zu nehmen drohen, begibt sich Havel auf die bewährte Flucht in sein Landhaus nach Hradecek.


Titelbild

Václav Havel: "Fassen Sie sich bitte kurz". Gedanken und Erinnerungen.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Joachim Bruss.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2007.
413 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783498029906

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