Das naturalistische Missverständnis und das unerschütterliche Wesen des Menschen

Michael Pauens Analyse "Was ist der Mensch" nimmt die Angst vor einer Neuro-Erosion von Selbstbild und Würde

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Abhandlungen zur Hirnforschung schießen wie Pilze aus dem Boden. Die Neuerscheinungen sind kaum zu überblicken. Verständlich, geht es doch um nichts geringeres als den philosophischen Dauerbrenner Menschenbild. Viel wird dabei polemisiert, zu viel vereinfacht, auf Seiten der Neurowissenschaftler ebenso wie auf Seiten der Skeptiker, die insbesondere in der Philosophie und Theologie beheimatet sind. Umso wichtiger, dass in dieser stark von Emotionen - Hoffnungen auf der einen, Ängsten auf der anderen Seite - geprägten Debatte um die neue Neurowelt sachlich analysiert wird, welche Möglichkeiten es jetzt schon gibt, menschliche Geistestätigkeit hirnphysiologisch zu erkennen, was davon erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch zu halten ist und welche Zukunftsperspektiven sich abzeichnen - bei aller Vorsicht, die bei derartigen Prognosen geboten ist. Michael Pauen, Professor für Philosophie in Magdeburg, liefert solch einen analytischen Beitrag. In scholastischem "zwar-aber"-Duktus nähert er sich der großen Herausforderung, der sich die Philosophie - sowohl die theoretische, als auch die praktische - gegenüber sieht: Zwar ist vieles momentan noch nicht möglich, aber methodische Verbesserungen könnten es künftig möglich machen (der Verweis auf den nicht zu leugnenden ideengeschichtlichen Fortschritt gibt hier einen Anhaltspunkt). Zwar liefern die neurowissenschaftlichen Befunde nur Korrelationen, keine Kausalitäten, aber mit hinreichender Genauigkeit fallen jene mit diesen zusammen und ein weiteres Nachfragen erübrigt sich. Zwar erhalten wir neue Einsichten in das "Rätsel Bewusstsein", aber damit ändert sich unser Menschenbild nicht so dramatisch, wie von Hirnforschern stolz und von vielen Philosophen und Theologen warnend verkündet.

Das dieser Frontstellung zugrunde liegende historische "naturalistische Missverständnis" sei, so Pauen, dadurch entstanden, dass naturalistische Erklärungen einerseits "nicht nur mit nicht-naturalistischen Erklärungen [konkurierten]", sondern "die Würde des Menschen und seine prinzipielle Differenz gegenüber einfacheren Lebewesen in Frage zu stellen [schienen], weil sie die Existenz genau der Merkmale bestritten, auf denen diese Würde basierte". Andererseits gebe es gar keinen Grund anzunehmen, dass naturalistische Erklärungen zwangsläufig "zu einer Degradierung des Menschen" führen. An diesem Punkt nimmt Pauen die Analyse auf und bespricht die Hirnforschung als gegenwärtigen naturalistischen Erklärungsversuch, bei dem ebenso die Gefahr eines solchen "naturalistischen Missverständnisses" gegeben sei. Dieses gelte es auszuräumen.

Pauen stellt fest, dass Erklärungsversuche auf einen fruchtbaren Boden fallen müssen, um zu Theorien wissenschaftlicher Güte heranzuwachsen. Dieser Boden muss bereitet sein, das heißt, wenn die Meinung vorherrscht, naturalistische Erklärungen könnten uns weiterbringen, dann werden sie es eines Tages auch tun. Dazu bedarf es einer gewissen Lockerheit, die durch regelmäßige Ventilation des Bodens erzeugt wird, die immer dann stattfindet, wenn die Philosophie beteuert, dass unser Menschenbild von der Hirnforschung nicht mehr erschüttert wird als etwa von den Fortschritten in der Psychologie. Hinzu kommt dann - gewissermaßen als Dünger - ein solches Buch, das mit historischen und systematischen Argumenten Missverständnisse nachvollziehbar abbaut und damit Befürchtungen depotenziert, was dann im einzelnen so aussieht: 1.) Freiheit und Determination seien nicht unvereinbar: "Freiheit lässt sich am besten als Selbstbestimmung verstehen, und Selbstbestimmung wird durch Determination nicht eingeschränkt." 2.) Unser Selbstbild sei nicht in Gefahr, zumindest soweit man nicht von einer "souveränen Ich-Instanz" ausgehe, was ohnehin "unrealistisch und unplausibel" sei. Um uns als selbstbewusste Personen zu verstehen, komme es statt dessen darauf an, bestimmte Fähigkeiten zu besitzen, also "aktuales Selbstbewusstsein, ein Selbstkonzept und eine gewisse Einheitlichkeit und Stabilität der für uns konstitutiven Merkmale". Hier helfe uns die Hirnforschung, indem sie empirische Daten zur Modellbildung bereitstelle und darüber hinaus die Entstehung dieser Fähigkeiten in der Entwicklung eines Individuums nachvollziehbar mache.

Also: Wenn alles nur ein großes Missverständnis ist, ist dann die Aufregung um die Hirnforschung völlig verfehlt? Im Schlusskapitel "Neurowissenschaft und Ethik" deutet sich an: Die berechtigten Sorgen liegen jenseits des akademischen Diskurses um den Status der Erkenntnisse der Hirnforschung zu intentionalen Vorgängen und phänomenalen Zuständen, dem sowieso nur wenige folgen können. Sie betreffen die ethischen Implikationen, die in zweierlei Gestalt erscheinen: Zum einen geht es um ein mögliches Ende normativer Moraltheorie durch eine Naturalisierung der Ethik, die "moralische Normen aus neurobiologischen Tatsachen ableitet" und zum anderen um die ethischen Probleme, die sich aus der (möglichen) Anwendung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse ergeben.

Auch hier zeichnet Pauen ein optimistisches Bild und gibt für beide Problemfelder Entwarnung: 1.) Zwar sei es in der Tat so, dass uns die Evolution mit "Grundlagen für ein funktionierendes Sozialverhalten" ausgestattet habe, aber damit erübrige sich nicht die Notwendigkeit der Festlegung moralischer Normen, denn man brauche eine Vorstellung davon, was genau das sei, jenes "funktionierende Sozialverhalten". Und diese Vorstellung sei uns eben von der Evolution nicht so präzise mitgegeben, dass alle damit zusammenhängenden Fragen geklärt wären, zumal Probleme des "funktionierenden Sozialverhaltens" sich heute insbesondere als neuartige und langfristige ethische Herausforderungen stellen, für die wir schon deshalb keine naturgegebenen Rezepte vorfinden, weil sie neu sind und für uns keine unmittelbaren Bedrohungen zeigen. Denn auf diese allein hat die Evolution unsere natürliche Neigung zur Ausprägung moralischer Vorstellungen orientiert. Ein paar hunderttausend Jahre mag das ja auch gereicht haben, bei großen Zukunftsproblemen mit ethischer Relevanz - Pauen nennt die "Umweltzerstörung" und den "demographischen Wandel" - gibt es aber "zu der Entwicklung eigener Normen überhaupt keine Alternative", ergo: "Das Programm einer Naturalisierung der Ethik misslingt". 2.) Freilich wirft die Anwendung der Hirnforschung - Neuroimplantate, neue Psychopharmaka - ethische Fragen auf. Wie sollen wir umgehen mit den Möglichkeiten des "Neuroenhancements"? Was ist die Grenze? Einige ziehen sie dort, wo die Authentizität der Person in Frage gestellt wird. Doch um zu sagen, wann ich aufhöre "Ich" zu sein, muss ich wissen, was "Ich" ist und welcher Eingriff dieses "Ich" gefährdet. Zudem ist die Objektivierbarkeit der Grenzziehung nicht gegeben: Einige sind nach einem Glas Bier nicht mehr sie "selbst", andere - Parkinson-Patienten etwa - finden vielleicht gerade durch einen Chip im Gehirn (wieder) ihr "Ich". Die Grenze wird beliebig verschiebbar. Pauen schlägt die Verantwortungsfähigkeit als Kriterium vor. So setzt er auch bei der Bewertung insbesondere auf die "vernünftige Zurückhaltung" des Menschen, wie sie ja auch schon gegenüber existierenden Drogen - etwa Alkohol - geübt werde; ein unglückliches Beispiel, denn gerade in diesem Fall ist das Missbrauchspotential groß, fast nirgendwo der tatsächliche Missbrauch von einem so erschreckenden Ausmaß, mit spürbaren Folgen für die ganze Gesellschaft. Ganz ohne Sanktionen geht es also nicht, räumt auch Pauen ein. Dazu bedarf es - und hierin liegt wohl das eigentliche ethische Problem - eines gesellschaftlichen Konsenses hinsichtlich zu verbietender Substanzen und Methoden, damit die "allgemeine Verbreitung des Missbrauchs zumindest in den schwerwiegenderen Fällen verhindert werden kann".

Michael Pauen gelingt es, durch eine weitgehend nachvollziehbare Argumentation allzu diffuse Ängste hinsichtlich der Hirnforschung abzubauen. Dankenswerterweise bleibt er in seinen Darstellungen allgemeinverständlich, auch wenn er die Oberfläche verlässt, um tiefer zu bohren, was bei einigen Sachverhalten notwendig ist. Doch könnte an manchen Stellen der Eindruck entstehen, dass der Beitrag der Neurowissenschaften zum physikalistischen Reduktionismus zu sehr verharmlost wird. Auch der Sprengstoff, der in der areligiösen naturalistischen Seelenleugnung liegt, dürfte größer sein als hier suggeriert: Zwei von drei Menschen in Europa und Nordamerika, den Kontinenten also, auf denen der überwiegende Teil der neurowissenschaftlichen Forschung stattfindet, glauben an die Existenz einer individuellen Seele. Der Streit um die Hirnforschung und ihre Konsequenzen ist ein Streit um das Menschenbild. Dieses wird auch von Gefühlen und vom Glauben mitbestimmt. Insoweit dürfte auch das vorliegende Buch, bei allem ersichtlichen Bemühen um analytische Klärung, die Kontroverse nicht beenden.


Titelbild

Michael Pauen: Was ist der Mensch? Der Streit um die Hirnforschung und ihre Konsequenzen.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007.
250 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783421042248

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