Eine Bestandsaufnahme des nur scheinbar großen Nichts

Raoul Schrotts "Die Fünfte Welt. Ein Logbuch" beschreibt den Weg einer wissenschaftlichen Expedition zum "letzten weißen Flecken" der Erde im Nordosten des Tschad

Von Felix KötherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Köther

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Raoul Schrott, bereits mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichneter österreichischer Schriftsteller und habilitierter Literaturwissenschaftler, hat eine Expedition in den Nordosten des Tschads begleitet. Sie hatte zum Ziel, den "letzten weißen Flecken" im Atlas der Erde zu beschreiben. Und er hat ein Buch darüber veröffentlicht, eine Reportage in Form von kleinen Episoden, die die Reise als ein Logbuch dokumentieren und als bunte Mosaiksteine ein durchaus abwechslungsreiches Bild eines Landes zeigen, das im westlichen Kulturraum kaum bekannt ist.

Dass es heutzutage kein absolut unbekanntes Gebiet mehr gibt, dass es in Zeiten von "Google Earth" nur ein paar Sekunden dauert, um von der Ansicht des - doch überraschend gefundenen - nachbarlichen Swimmingpools zu den Umrissen von am Wasserloch trinkenden, ostafrikanischen Elefanten zu wechseln, und dass es lange schon von so ziemlich jedem Flecken der Erde wenigstens ein grob umrissenes Bild gibt, das landschaftlich bereits so einige Fragen klärt, ist natürlich auch den Teilnehmern der Expedition von vornherein klar. Vielmehr geht es um Berichte, Fotos und wissenschaftliche Dokumentationen, "all das also, womit wir glauben, die Welt kartografieren und uns das Fremde zu eigen machen zu können. Solange eine Region durch solche Abstraktionen noch nicht vereinnahmt ist, bleibt sie terra ignota".

Das Dutzend, das die Expedition unter dem Archäo-Geologen und Leiter Stefan Kröpelin durchführt, und zu dem neben Raoul Schrott unter anderem auch noch ein Fernerkundler, ein Botaniker, eine junge Ethnologin und ein Kamerateam des ZDF gehören, bricht Ende 2005 in N'Djamena, der Hauptstadt des Tschad, auf in Richtung Abeché, der drittgrößten Stadt des Landes, nordöstlich vom Startpunkt gelegen. Die beiden Ziele im Nordosten, nahe der Grenzen zu Libyen und dem Sudan, sind das Erdi Ma, ein Felsplateau, und das bereits ein Jahr nach Einrichtung wieder verlassene, französische Fremdenlegionärsfort Agoza, das Mitte der 1930er-Jahre aus Angst vor den Expansionsplänen Benito Mussolinis errichtet wurde. Die instabile Lage im Land scheint für die Expedition das größte mögliche Hindernis werden zu können. Zwei Jahre zuvor musste aufgrund des Konfliktes in der benachbarten Darfur-Region bereits eine kleinere Fahrt abgesagt werden. Die Teilnehmer werden von Anfang an gewarnt, dass "es in unserem Zielgebiet von Banditen, Rebellen, Janjawid und Minen wimmelt." Am Ende wird es aber gut gehen. In Abeché werden Schrott und die Gruppe allerdings dann nicht nur Zeugen der "Bürokratie zur Verwaltung der Darfurkrise", die "sich hier in neuerbauten Villen samt Chauffeuren in klimatisierten neuen Toyotas niedergelassen" hat, sondern auch eines Putschversuches, der während ihres Aufenthalts stattfindet: Ein Panzerkommandant hat gemeutert und die Tradition der Darfur-Region als "Ausgangsbasis für jede Rebellion" fortgesetzt.

Die Fahrt geht schließlich weiter ins Ennedi-Gebirge und bis zur Oase Fada, "der letzten Siedlung vor der Wüste", vor der immer noch Minen und Panzer aus dem Tschad-Krieg liegen. Von der Beschreibung des "letzten weißen Flecken" des Weltatlas ist bis jetzt, nach dem ersten Kapitel und der Hälfte des Textteils - immerhin dreißig Seiten - noch nichts zu lesen, dafür aber von der Situation im Tschad, von der Situation der Menschen, von Müttern, die sich in der Hauptstadt den Ausländern und den Soldaten der Fremdenlegion anbieten, um ihre Familien zu ernähren; von Kindern, die auf dem Land winkend den Wagen entgegenlaufen und Geschenke einfordern; von Soldaten, von islamischen Bräuchen und von Herodot, dessen Zitate am Eingang eines jeden Kapitels stehen, der auch später noch des Öfteren als Quelle für das antike Wissen und die antiken Vorstellungen über die Regionen der Ostsahara zitiert werden wird, und dessen Beobachtungsgegenstände der Autor gelegentlich wiederzufinden versucht.

Erst hinter Fada, auf Höhe der Mourdi-Senke, einem ehemaligen Seebecken zwischen dem Ennedi-Massiv und dem Erdi Ma, erreicht das Team das, was für Schrott die Fünfte Welt darstellt. In sozioökonomisch-geografischen Kontexten bezeichnen Begriffe wie die der Vierten und Fünften Welt - auch als weitere Differenzierungsmöglichkeit innerhalb der Staaten der Dritten Welt - meistens die von den Vereinten Nationen als "Least Developed Countries" bezeichneten, am wenigsten entwickelten Länder - zu denen auch der gesamte Tschad gehört. Bei Schrott ist die Vierte Welt die der Nomaden, in die man eintritt, sobald man etwa die Metropole N'Djamena verlässt. Die Fünfte Welt beginnt schließlich im Niemandsland, hinter den Kulissen jeder menschlichen Gesellschaft, "wie die Quintessenz einer Realität hinter jedweder humaner Oberfläche: die eigentliche Erde."

Doch auch in dieser Gegend, die zwar auf der Karte weiß, vielleicht wissenschaftlich nicht kartografiert ist, haben - bis sich die Wüste diesen Landstrich einverleibte - immer Menschen gelebt und Spuren hinterlassen. Richtig ausgestorben ist die Gegend dabei noch gar nicht so lange: Selbst in den 1930er-Jahren noch zählte ein französischer Leutnant hier vier Dutzend Löwen, und auch die letzten Bewohner der Mourdi-Senke wanderten vor noch nicht allzu vielen Jahren in südlichere Regionen ab - wovon die heute noch verbliebenen Holzgestänge der Hütten zeugen.

Auf und um das Erdi Ma wird Schrotts Reportage dann vor allem auch eine Beschreibung der menschlichen Spuren, die überall zu finden sind. Die Wüste selbst gewinnt so eine paradoxe wie gegensätzliche Dimension: Einer der lebensfeindlichsten Orte der Erde ist gleichzeitig ein zuverlässiger Bewahrer und Freilichtmuseum für Jahrtausende alte Hinterlassenschaften. Überall trifft die Expedition, deren Radius bei höchstens 800 km liegt - "trotz aller Technik weder länger noch weiter als die Strecke, die die Karawanen seit jeher überwinden können" -, auf Spuren menschlicher Zivilisation, die hier ihren Platz hatte, als die Ostsahara noch Grasland war - und einer der Ausgangspunkte des Homo sapiens für seine Wanderungen Richtung Nil, Mesopotamien und Europa: "Ob die älteste bekannte Keramik oder erste domestizierte Tiere: nicht das Zweistromland und auch nicht das Niltal waren die Wiege der Zivilisation, sondern diese ehemaligen Savannen hier".

Zu diesen Spuren gehören nicht nur die vielen Felsmalereien aus der Alt- und Jungsteinzeit, sondern, besonders an den Zeugenbergen, auch Artefakte wie Reibschalen und Mahlsteine um "Feuerplätze und Steinsetzungen, Speicher und Tränken", die wie die Bilder und Einritzungen am Fels offen und wie unberührt daliegen. Vor Kröpelin und Schrott hatte bereits 1923 eine Expedition unter Ahmed Hassanein Bey das Erdi Ma erreicht, die damals hauptsächlich den unbekannten Südwesten Ägyptens beschreiben sollte und kaum Aufzeichnungen machte. Und auch zwischen den beiden Expeditionen sah diese Gegend einige Passanten: Es gibt Reifenspuren von Militärpatrouillen, Guerillas oder Rebellen, die Gegend um Agoza war Rückzugsgebiet der Janjawid, die in der Darfur-Region zahllose Morde begingen. Unter einer Klippe werden "die frischen und tiefen Fahrrinnen einer Lastwagenpiste" überquert.

Schrott scheint bemüht, mit westlichen, stereotypen Vorstellungen über diese Region aufzuräumen. So korrigiert er auch ausdrücklich das Bild, das die ZDF-Dokumentation "Durch den Tschad ins Erdiland" - das Ergebnis der Filmarbeiten des mitgereisten Kamerateams - von der Reise zeichnet, als nach Drehbuch von vornherein geplantes, die Reise verfälschend zeigendes Bild, und als Kompromiss, der nur die Wüstenromantik-Erwartung der Zuschauer erfüllen will.

Von "Klischees einer Wüstenreportage", die zwar vom Publikum zwangsläufig erwartet werden, jedoch "immer nur zum kleinsten Teil wahr sind" wendet er sich demonstrativ ab, nur um dann kurz darauf in eben jene, so manches Wüstenbild bestätigende Beschreibungen zurückzufallen, schwärmerisch von Zeit, Ferne, Menschsein und Selbsterkenntnis zu philosophieren, seine Eindrücke noch später, längst wieder aus der Wüste zurückgekehrt, als schwer zu benennende und sprachlich zu fixierende zu erklären, und angelehnt an ein Grab den Sonnenuntergang zu beobachten, feststellend, "dass sich eine Grenze zwischen Lebendem und Totem" kaum noch ziehen lässt, "sie gehen ineinander über" - Scheinbar sind die Klischees einer Wüstenreportage doch nicht allesamt so falsch, oder eben unumgänglich.

Es hätte etwas, Antoine de Saint-Exupéry und Schrott parallel zu lesen. Saint-Exupéry lebte und arbeitete anderthalb Jahre auf der anderen Seite der Sahara bei Tarfaya an der Atlantikküste und verarbeitete Erlebnisse und Beobachtungen in Büchern wie "Terre des hommes" oder seinem frühen Fliegerroman "Südkurier", in denen die Sahara und ihre Bewohner der 1920er- und 1930er-Jahre eine große Rolle spielen. Seine Beschreibungen der Nomaden, der Beduinen, mit denen die Piloten damals des Öfteren in Konflikt kamen, eines Sklaven, der einst von einem Beduinenstamm gefangen genommen wurde und sich als Greis in den Sand legt, um zu sterben, sowie seines eigenen, knapp überlebten Absturzes in der libyschen Wüste, nicht allzu weit entfernt von Schrotts Expeditionsziel - all das zeichnet ein Bild aus der Zeit, als Frankreich sich den heutigen Tschad und die Sahara zwar für lange Zeit als Kolonialgebiet einverleibt hatte, faktisch jedoch weder Kontrolle, geschweige denn umfassende geografische Kenntnis über das Land hatte. Beschreibt Saint-Exupéry also noch einen Übergangszustand, in dem die traditionellen Gesellschaftsformen neben den Niederlassungen und Einflüssen der Kolonialherren bestehen, ist dieses Gebiet bei Schrott längst in der Moderne angekommen. Die Sahara breitet sich unaufhaltsam aus, der Tschadsee ist so gut wie ausgetrocknet, Wasserlöcher, so genannte Gueltas, die zu Saint-Exupérys Zeiten noch Karawanenwege sicherten, liegen vertrocknet und wie das Fremdenlegionärsfort Agoza verlassen da. Die moderne Zivilisation des 21. Jahrhunderts mit Klimaanlagen und all ihren Flüchen und Verlierern ist längst angekommen. Dort, wo früher stolze und wenig beugsame Nomaden auf die Flieger geschossen haben, gefährden heute Landminen und willkürlich handelnde Militärs und Paramilitärs das Leben der Menschen und der wenigen Reisenden.

Das Erlebnis der Wüste scheint jedoch das gleiche geblieben zu sein. Die besagten Reflexionen über die hier gänzlich anderen oder aufgehobenen Grenzen und Dimensionen von Zeit, Entfernung und dem Menschsein lassen sich bei beiden finden.

Die Form des Logbuches, das oft den Charakter eines Tagebuchs in journalistischerer Sprache besitzt, sorgt dabei für Dichte in den gerade mal siebzig Seiten Text, denen sich ein über fünfzig Seiten starkes drittes Kapitel anschließt, das schwarz-weißes, kommentiertes Bildmaterial enthält, größtenteils Fotos von Hans Jakobi, teilweise auch Dokumente über Agoza und wenige historische Bilder, die die vorausgegangenen Beschreibungen unterstützen und bildlich greifbar machen.

Schrott zeigt sich im Buch Superlativen gegenüber recht affin, was meistens durchaus nachvollziehbar ist, beschreibt er doch auch ein Land und Bedingungen der Extreme. Zwei kleine Fehler unterlaufen ihm im Drive der Eindrücke dennoch: So leben die Menschen im Tschad etwa nicht "in diesem ärmsten der Länder" - wie auch bereits dem Rezensenten der "Süddeutschen Zeitung" aufgefallen ist - weder nach den Werten des Bruttoinlandsproduktes, noch nach dem HDI, dem Human Development Index, noch nach anderen Tabellen. Was allerdings in der Realität keine große Rolle spielt, denn eines der ärmsten Länder ist der Tschad natürlich dennoch. Und: Hinter dem Ennedi-Gebirge fährt Schrott auch nicht in "das trockenste Gebiet der Erde". Diesen Rekord halten wohl Teile der südamerikanischen Atacama-Wüste. Dass das Ennedi "eine der schönsten Landschaften dieser Erde" ist, mag wiederum zutreffen.

Eine andere Textstelle, über die man stolpert, ist die Passage, in der Schrott auf den Darfur-Konflikt, insbesondere dessen Ursache und Darstellung in den Medien eingeht. So beschreibt er die in Abeché arbeitenden Entwicklungshelfer als mit der Situation recht zufriedene Bezieher von Auslandszulagen, denen es nur recht ist, wenn die Medien entgegen der realen Situation weiterhin mit plakativen Genozidmeldungen gefüttert werden, die den Flüchtlingsstrom als potentieller Versorger und Ernährer einerseits auch mit ausgelöst haben und andererseits den Hilfe Suchenden eigentlich nicht so wirklich ein Ende des Konfliktes und den Heimweg wünschen. Sei doch "keinem daran gelegen [...] die gerade etablierten Strukturen wieder aufzulösen, jetzt, da die Spendengelder fließen. Und privat gesehen ermöglichen die Auslandszulagen hier ein sattes Leben; der eigentliche Gehalt bleibt sowieso zuhause auf der Bank."

Schrott schreibt, dass "die seit Jahren in allen Zeitungen stehenden Meldungen eines Genozids vor allem eines sind: Kolportage." Vor sich anschließenden Passagen, in denen der Autor sich - was prinzipiell ja keineswegs verwerflich ist - bemüht, den Darfur-Konflikt zu differenzieren und als weitaus komplexeren Konflikt und Machtkampf verschiedenster Gruppen und Ethnien zu erklären, steht dann der etwas einsame Satz: "Dass Massaker verübt worden sind, ist klar." Klar. Natürlich. Aber? Es ist selbstverständlich wichtig zu differenzieren, der Leser mag aber selbst entscheiden, ob für ihn Zynismus oder Ungeschicktheit in der Formulierung überwiegt. Egal wie man es benennt und welchen Namen man der Sache gibt, an der katastrophalen und alarmierenden humanitären Lage, an den Menschenrechtsverletzungen wie Vertreibung, Massakern und Vergewaltigungen, ändert es nichts. Und hier klingt der Text leider zu relativierend, fast abwiegelnd.

Insgesamt ist das Buch "Die Fünfte Welt" ein Panorama der Menschen und der Lebenswelt des heutigen Tschads, seiner Hauptstadt, der Sahelzone und der Ostsahara, angefangen in der Alt- und Jungsteinzeit bis zum heutigen Tag. Schrott zeigt, dass die Wüste mehr ist als das große, leere Nichts, als das es seinen Platz in Phrasen und Gemeinplätzen gefunden hat. Und er zeigt vor allem all das, was sich eben nicht auf Karten, auf Satellitenbildern für den Hausgebrauch wie bei "Google Earth" erkennen lässt: die Spuren von Menschen heutiger wie längst vergangener und vergessener Zeiten, Krieg und Frieden, Spuren von Ozeanen und Binnenseen, und die Tatsache, dass kein Satellitenbild, kein Bildband oder Reiseführer den Reisenden ersetzen kann, der wirklich selbst Zeuge wird.

Die beschriebene Route ist auch ein Weg durch vergessene Welten: Als Aufbewahrungsort von Relikten und Zeugnissen vergessener Zeiten, und als tagtäglicher Schauplatz von vergessenen Konflikten und humanitär katastrophalen Zuständen, die gerne verschwiegen werden, weil ihnen das Emblem der Neuigkeit abgeht und sie längst stillschweigend hingenommen werden.

Und das Buch zeigt auch, dass der Reiz, der in der Erschließung und in der kartografischen Ordnung des Unbekannten liegt, etwas, was dem ordnungs- und kontrollsüchtigen Wesen Mensch schon immer gefallen hat, so gut wie verschwunden oder höchstens nur noch sehr punktuell möglich ist.

Diesen uns so wenig bekannten Teil der Welt ein Stück weit zugänglich und greifbar zu machen, entgegen dem Klappentext gerade die Rätselhaftigkeit der beschriebenen, entlegenen Gebiete aufzulösen und in Form von Mosaikstücken Einblicke in eine wissenschaftliche Expedition unserer Zeit zu geben, das hat Schrott in seinem Logbuch möglich gemacht.


Titelbild

Raoul Schrott: Die fünfte Welt. Ein Logbuch.
Haymon Verlag, Innsbruck 2006.
200 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3852185246

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