Über das Literatengesindel

"Chilenisches Nachtstück" ist eine weitere Romanentdeckung des großen chilenischen Autors Roberto Bolaño

Von Maja RettigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maja Rettig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein mittelmäßiger chilenischer Dichter, weitaus berühmter als Literaturkritiker und zudem noch Priester, liegt im Sterben. Sein Leben lang sei er mit sich im Reinen gewesen, beteuert Sebastián Urrutia Lacroix. Aber. Und dann hebt er zu einer absatzlosen Rechtfertigungssuada an, bei der unklar ist, was die Vorwürfe sind und von wem sie überhaupt erhoben werden. Ein dunkles "Chilenisches Nachtstück".

Sein Redefluss erzeugt Abschweifungen von Abschweifungen und Anekdoten, die das Eigentliche auszulassen scheinen und von Andeutungen und Unzuverlässigkeitshinweisen durchsetzt sind. Das eröffnet Raum für wüste Vermutungen: Was ist mit der Libido des Priesters, geht er auf die direkten Avancen des Kritikerpapstes Farewell ein? Was geschieht, wenn er mit einem anderen Geistlichen "unvergeßliche Stunden" verbringt?

Sebastián Urrutia Lacroix ist ein sich Windender. Obwohl es doch so rund läuft in seinem Leben, wird er, ohne dass er Gründe nennen könnte, immer wieder heimgesucht von Krisen, Fiaskogefühlen und von großem geträumtem Unheil.

Und das reale Unheil ist ja nicht weit. Das verschwiegene Zentrum seiner Beredtsamkeit ist nämlich nicht das verbotene Begehren des Priesters, sondern die ästhetizistische Existenz des Kunstkritikers und Künstlers in politisch hochproblematischen Zeiten. Während der Demonstrationen gegen Salvador Allende, als Mangel und Inflation sich ausbreiten, liest er griechische Tragödien. Als der Militärputsch da ist und Allende tot, hält er kurz inne, "einen Finger zwischen den Seiten des Buchs, das ich las, und dachte: Welch ein Frieden." Und was macht die Kirche? Sie schickt ihn während einer seiner unerklärlichen Krisen nach Europa, um dort zu untersuchen, wie Kirchenbauten durch Taubenexkremente beschädigt werden. Und das, während Chile brennt.

Es geht um die Obszönität einer rein auf Kunst ausgerichteten Existenz unter der Diktatur, um das Verhältnis von Kunst(betrieb) und Gewalt, auch Kirche und Gewalt. Diese Obszönität kulminiert auf einer Party des "Literatengesindels", als ein Gast im Keller des Privathauses auf der Suche nach der Toilette einen halbtoten Gefolterten findet: "Und der Avantgardetheoretiker schloss leise die Tür, ohne Lärm zu machen."

Auch der Erzähler selbst verstrickt sich weiter ins Regime als nur durch scheuklappenhaftes Lesen: Auf Anfrage erteilt er als umfassend gebildeter Mensch (und keinesfalls Marxist) den Putschisten um General Pinochet Nachhilfeunterricht in Marxismus - damit sie den Feind besser verstehen.

Der Weg des Autors Roberto Bolaño war dem seiner Figur entgegengesetzt. Der literarisch spät erst Wahrgenommene, der seinen internationalen Erfolg durch seinen frühen Tod 2003 knapp nicht mehr erlebte, wollte, 20jährig, unter Allende den Sozialismus aufbauen helfen - wofür er unter Pinochet kurzzeitig in Haft kam. Danach verließ er Chile für immer, die meiste Zeit lebte er in Spanien. Er hatte den Preis des Exils zu zahlen.

Seine Bücher sind trotzdem weit davon entfernt, in pädagogischem Sinne "engagiert" zu sein. Bolaño zeigt die Realität als surrealistisch inspirierte Ungeheuerlichkeit. "Chilenisches Nachtstück" instrumentalisiert die Literatur weder noch denunziert es sie, der Roman ist Feier und Parodie der Kunst zugleich.

Bolaños Ironie arbeitet manchmal mit deftigen Brüchen, oft aber ist sie kaum zu greifen. Als der Erzähler in jungen Jahren Pablo Neruda begegnet, verbindet sich in der Schilderung dieser Szene sein Pathos mit der Ironie des Autors zu einer Art zärtlichem Spott von bezaubernd schiefer Poesie: Der große Dichter "murmelte mit tiefer Stimme Worte vor sich hin, die für niemand anders als den Mond bestimmt sein konnten. Ich erstarrte zu einem Ebenbild der Reiterstatue, die linke Hand halb erhoben. Es war Neruda. Was sonst geschah, weiß ich nicht. Dort stand Neruda, ein paar Meter weiter ich selbst, in tiefer Nacht, vom Mond beschienen, umstanden von der Reiterstatuette, den Pflanzen und Chiles Gehölzen, umfangen von der finsteren Würde des Vaterlands."

In dieser Reibung liegt auch die Kunst, einen Ich-Erzähler überzeugend als mittelmäßigen Poeten entworfen und zugleich selbst ein in allerhöchsten Etagen funkelndes Buch geschrieben zu haben. Über dem Erzähler bricht am Ende, im zweiten Absatz des Buchs, der aus einer einzigen Zeile besteht, "der Orkan aus Scheiße" los, jener nämlich, den er 156 Seiten lang zurückzuhalten versucht hat. Großartig.


Titelbild

Roberto Bolaño: Chilenisches Nachtstück. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Heinrich von Berenberg.
Carl Hanser Verlag, München 2007.
160 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446208223

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