Spiegelbild der Zeit

Robert Greenfield über die Entstehung des Rolling-Stones-Albums "Exile on Main St." im Sommer 1971

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit dem Festival in Woodstock sind schon fast zwei Jahre vorüber gegangen. Im Jahr 1970 hatten sich die Beatles getrennt und ihre medialen Gegenspieler, die Rolling Stones, steckten in einer musikalischen, finanziellen und - wie immer - persönlichen Krise. Die Trennung von ihrem Manager lief und sollte recht teuer werden. Man konnte mit dem fertiggestellten - aber noch nicht erschienenen - Album "Sticky Fingers" aus rechtlichen Gründen nicht auf Tour gehen. In England gab es Schwierigkeiten mit dem Finanzamt, jahrelang waren keine Steuern bezahlt worden und bis auf Mick Taylor, der noch nicht lange in der Band war, hatten die restlichen Stones erhebliche pekuniäre Außenstände. Also "floh" man aus England und landete am Beginn des Sommers 1971 in einem Haus an der französischen Riviera, in der Villa Nellcôte, im Gepäck offensichtlich nur den Vorsatz, ein neues Album einzuspielen.

In seinem die Akteure und die Ereignisse ausführlich skizzierenden Buch beschreibt Robert Greenfield aus einer durch und durch desillusionierenden Perspektive die chaotischen Zustände, die den kreativen Prozess, die Entstehung der Songs und die Aufnahmen mit der mobilen Aufnahmeeinheit der Rolling Stones begleiten: "In einer Welt, für die keiner, der unter dreißig war, irgendetwas konnte, in der alles so kaputt war, dass jeder Versuch, daran herumzudoktern, sinnlos wirkte, schien es geradezu angebracht und vernünftig, sich schon allein deswegen zu betäuben, weil man jeden Morgen aufwachte mit nichts außer der quälenden Gewissheit, einen weiteren völlig hoffnungslosen Tag vor sich zu haben. Lasst es euch von jemandem sagen, der es erlebt hat - die Zeiten damals waren alles andere als wundervoll."

Es ist vor allem der ernüchternde Blick auf einen von harten Drogen und Zufälligkeiten bestimmten Alltag, der die Qualität des Buches ausmacht. Der Sprachduktus und die Besonderheiten einer entspannten Erzählweise werden durch die hervorragende Übersetzung von Christoph Hahn und Sky Nonhoff mehr als nur adäquat wiedergegeben. Das collageartige Montieren der Ereignisse mit Ausschnitten aus Interviews und autobiografischen Beschreibungen rückt die mehr als fünfunddreißig Jahre zurück liegenden Ereignisse in die Nähe des Lesers. Dies wird vor allem durch die Beschreibung der Katastrophen deutlich, von denen der Sommer 1971 für die Stones scheinbar jede Menge bereit hielt. Nach monatelangem Aufenthalt in der Villa Nellcôte und minimal vorangeschrittenen Arbeiten am Album müssen die Stones nach einer Drogenrazzia, die den Endpunkt ihres Aufenthaltes an der Riviera markiert, fliehen: "Durch ihren Lebensstil, die von ihnen bevorzugten Drogen und die Leute, denen sie Tür und Tor geöffnet haben, ist es Keith [Richards] und Anita [Pallenberg] schließlich gelungen, den unbändigen Zorn der örtlichen Bevölkerung auf sich zu ziehen und deren Blut in Wallung zu bringen. Eine bemerkenswerte Leistung, wenn man bedenkt, dass an der französischen Riviera, die Somerset Maugham so treffend als ein 'sonniges Fleckchen Erde für Leute mit nicht ganz unbefleckter Weste' beschreibt, gemeinhin so gut wie jedes abweichende Verhalten toleriert wird, solange man nur seine Rechnungen pünktlich bezahlt. Doch nun, da es passiert ist, müssen Keith und Anita die Konsequenzen tragen. Jedenfalls irgendwie."

Fragt sich der Leser, warum das Album und die damit verbundene Entstehungsgeschichte wichtig sind? Kaum, denn ab der ersten Seite ist das gesamte Buch spannend zu lesen, es zieht einen sofort in den Bann und die Zitate auf dem Buchumschlag sind nicht übertrieben, die Lektüre macht süchtig - was in Bezug auf den Inhalt des Buches durchaus nicht einer leichten Ironie entbehrt. Die Bedeutung des Albums lässt Greenfield mit den Worten von Tommy Weber durchscheinen: "Trotzdem war es eine wegweisende Platte. Die Siebziger hatten bereits begonnen, und das Entstehen des Albums, die Haltung der Beteiligten und die Attitüde von Exile hängen unmittelbar mit dem Anfang jenes Jahrzehnts zusammen. In gewisser Weise haben die Stones das heraufziehende Dunkel des ausgehenden Jahrhunderts vorweggenommen. Und wir waren die Privilegierten, die mit dazugehörten und alles aus nächster Nähe miterleben durften."

Dabei sind die Reaktionen beim Erscheinen durchaus gemischt: "Das Album [...] präsentiert vier Seiten lang den immergleichen Song in den üblichen Variationsschemata der Stones, was einerseits für das konstante Schaffen der Band stehen mag, andererseits aber auch eine vage Unzufriedenheit hervorruft, da das Album letztlich nicht einzulösen vermag, was frühere Höhenflüge dieser Band der Bands versprochen haben." Man war durch die Mischung der Sounds und die vermeintliche Heterogenität des Albums verunsichert. "In der Tradition Phil Spectors haben sie ihre Songs in einen Wall of Sound gekleidet, doch wo Spectors Aufnahmen stets offen und luftig klingen, verklumpt hier alles zu einer zähen Masse, einem schier endlosen Dickicht, durch das man sich mühsam zum Kern der Sache vorkämpfen muss." Den Status eines Meilensteins der Popmusik sollte sich das Album erst in den folgenden dreißig Jahren erarbeiten. Dass dies nicht zuletzt in der desperaten und desolaten Entstehungsgeschichte des Albums begründet liegt, die wiederum ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Verhältnisse des Jahres 1971 ist, wird durch Greenfields Ausführungen offensichtlich.

Einen desillusionierenden, das ganze Buch und die Geschichte beschreibenden Beitrag aus einem Interview mit Keith Richards stellt Greenfield an den Schluss des Buches und charakterisiert damit nicht nur den Sommer 1971 und die Geschichte(n) um das Album "Exile on Main St.", sondern eigentlich die Geschichte der Band. Kurz davor liefert er aber noch das Fazit, das auch diesen Text beschließen soll, zusammen mit einer eindringlichen Aufforderung, dieses Buch zu lesen: "Im Gegensatz zu Mick [Jagger] macht Keith [Richards] keinen Hehl aus den Dingen, die er verbrochen hat. Er versucht nie, seine Fehltritte unter den Teppich zu kehren. Er ist einfach nicht so gestrickt. So war er schon vor fünfunddreißig Jahren [als Exile on Main St. aufgenommen wurde, A. d. V.], und daran hat sich bis heute nichts geändert. Und nachdem nun alles gesagt wäre, steht definitiv fest, dass Keith unser Held ist. Ebenso wie unser Antiheld. Aber wenn Sie bis zu dieser Seite gekommen sind, war Ihnen das ohnehin schon lange klar."


Titelbild

Robert Greenfield: Exile on Main St. Ein höllischer Sommer mit den Rolling Stones.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Christoph Hahn und Sky Nonhoff.
Rogner & Bernhard Verlag, Berlin 2007.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783807710303

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