Eine Hülle namens Leben

Gregor Sander erzählt in seinem Roman "abwesend", wie man sich auch im Unglück behaglich einrichten kann

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine intakte Familie wird man die Radtkes wohl nicht nennen können. Da kehrt die Mutter von Lanzarote zurück und sagt, während sie ihre Urlaubsfotos präsentiert, freundlich zu ihrem Sohn: "Ich dachte, du bringst ihn um." Gemeint ist der Vater, der seit seinem Schlaganfall im elterlichen Schlafzimmer nur noch die Wände anstarrt. Auf ihre Bitte hin war Sohn Christoph aus Berlin gekommen, um sich während ihrer Abwesenheit im Schweriner Elternhaus um die "lebende Hülle" seines alten Herrn zu kümmern, zum ersten Mal.

Zwar beteuert der Ich-Erzähler von Gregor Sanders Roman "abwesend" dem Leser, keine Sekunde lang an die Möglichkeit eines Vatermords gedacht zu haben. Wahr ist aber, dass Christoph das Krankenzimmer erst betritt, als die zwei Wochen schon fast vorüber sind. Die Betreuung des komatösen Kranken übernimmt derweil Kristina, eine junge Bulgarin, die die Mutter vorsorglich engagiert hat. Charakteristisch für die ausgedehnten Schweigezonen in dieser Familie ist, dass die Mutter ihren ungeheuerlichen Satz sogleich zu entschärfen sucht: "Entschuldige, es ist nicht so gemeint."

Christoph und das übrige Personal des Romans sind Wiedergänger der Figuren aus Sanders Erzählungssammlung "Ich aber bin hier geboren" (2002). Mit ihr avancierte Sander, 1968 in Schwerin geboren, zum Vertreter einer neuen gesamtdeutschen Autorengeneration; seine melancholischen Texte wurden mit denen Judith Hermanns verglichen. Sein neuer Roman lässt jedoch mehr an die lakonische Trostlosigkeit der Figurenwelt eines Peter Stamm denken, so sehr hat sich Sanders Protagonist in seinem Unglück eingerichtet. Christophs Lebenslauf ist zwar von der deutschen Teilung geprägt, doch für seinen emotionalen Gefrierzustand scheint es gleichgültig, auf welcher Seite des Eisernen Vorhangs er aufwuchs.

Als Christoph im "Jahrhundertsommer", also wohl 2003, zu seinem Vater nach Schwerin fährt, ist seine Lebenssituation desolat. Die Freundin hat ihn verlassen, weil sie in New York Karriere machen will und er sich nicht entschließen konnte, mitzugehen. Vor kurzem hat er auch noch seinen Job verloren. Christophs Entschuldigung für sein Scheitern und seine Passivität lautet stereotyp: "Ich war nicht darauf vorbereitet" - auf eine Fernbeziehung, die Arbeitslosigkeit, einen im Wachkoma liegenden Vater. Weshalb man sagen könnte: Worauf der 32-Jährige nicht vorbereitet ist, ist das Leben selbst.

Der Aufenthalt im Elternhaus ruft Kindheitstraumata wach. Denn seelisch abwesend, so wird schnell klar, war Wilhelm Radtke, der einst an der TU in Wismar Architektur lehrte, für seine drei Kinder von Anfang an: Er "habe keinen Weg zu ihm gefunden, und er hat ihn nicht einmal gesucht", bekennt der Sohn einmal. Distanziert, wortkarg und unpersönlich war der Vater und blieb so stets ein Fremder. "Wieso haben wir alle seinen Beruf gelernt, obwohl er so gut wie nie gesprochen hat?", fragt einmal Christophs alkoholkranker Bruder Gerd, dessen inneres Leben schon seit den Montagsdemonstrationen erstarrt ist.

Glücklich scheint dieser Wilhelm Radtke nur im Garten gewesen zu sein, wo er sogar gesprochen haben soll, mit Amseln und Maulwürfen. In der DDR führten die Radtkes ein erstaunlich komfortables Leben, mit Haus und (seinerzeit ein Unikum in der Stadt) Swimming-Pool; für Christoph war der Pool so etwas wie für den Vater der Garten, ein umfriedetes Stückchen Sehnsucht. Die titelgebende Abwesenheit bezieht sich zwar zunächst auf den zwischen Leben und Tod schwebenden Kranken, sie beschreibt aber zugleich den Zustand des Erzählers. Denn Christoph ist seinem Vater ähnlicher, als er es wahrhaben will. Eine Chance, diesem doch noch nahe zu kommen, erhält der Sohn, als während der beiden Schweriner Wochen ein Brief aus der Schweiz kommt, wo der Vater in den 1980er-Jahren eine Gastprofessur innehatte. Die Absenderin, eine Eva Holzinger, fordert Wilhelm Radtke auf, sich endlich einmal bei seiner Tochter Maria blicken zu lassen. Gewissermaßen stellvertretend bricht nun Christoph auf, um seine ihm bislang unbekannte Schwester kennen zu lernen.

Der Leser muss sich Christophs Geschichte wie bei einem Puzzle Stück für Stück zusammensetzen, so vertrackt und kurvenreich, mit ineinander verschachtelten Rückblenden, lässt Gregor Sander seinen Protagonisten erzählen. Diese reizvolle Abkehr von der Linearität, in der sich wohl Christophs eigene Tendenz, sich zu entziehen, spiegelt, hilft einem über einige handwerkliche Schwächen des Romans hinweg. Die Schilderung von Nebenfiguren etwa, mag man sie zur Not auch als Rollenprosa deuten, erinnert mitunter an Trivialliteratur: "Robert Echterhoff aus Paderborn in Westfalen. Pferdeschädelig, schwerknochig, dünn und manchmal schwer zu verstehen."

Fatal wird es aber, wenn der Autor dem Leser die Arbeit abnimmt und bereits seine Figuren alles erklären lässt. Gegenüber der einstigen Geliebten Wilhelms mutmaßt Christoph über seinen Vater: "Sein eigener Vater ist gefallen, er hat ihn gar nicht kennen gelernt, wie so viele in dieser Generation. Vielleicht wusste er auch deshalb nicht, welche Bedeutung ein Vater für ein Kind hat. Weil er selbst nicht wusste, was das ist, ein Vater." Einsichten wie diese stammen, mit Verlaub, aus der psychologischen Klippschule.


Titelbild

Gregor Sander: Abwesend. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2007.
160 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783835301436

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