"And what do you think of it all, Watson?"

Nick Rennisons "Sherlock Holmes" ist mehr als nur die fiktive Lebensgeschichte des Meisterdetektivs

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manche literarische Figur erscheint so real, dass man sich erst vergegenwärtigen muss, dass sie eigentlich nie gelebt hat: Till Eulenspiegel etwa oder Robin Hood zählen ebenso zu dieser Gruppe von vermeintlich historischen Persönlichkeiten wie Don Quixote und Robinson Crusoe. Kein Wunder also, dass im Zuge des momentanen Biografien-Booms zunehmend auch die Lebensgeschichten dieser fiktiven Berühmtheiten ins Zentrum des Interesses rücken. Unlängst ist der britische Autor und Buchhändler Nick Rennison diesem Trend gefolgt und hat sich mit seiner "unautorisierten Biographie" Sherlock Holmes' der Vita des Ur-Vaters aller Detektive angenommen.

Dabei gelang es Rennison, nach intensivem Studium unterschiedlichster Archive, die Wurzeln des viktorianischen Meisterdetektivs bis in das kleine Dörfchen Hutton Le Moors in der Nähe Pickerings zu verfolgen, wo der dem niederen Landadel Yorkshires entstammende Holmes am 17. Juli 1854 das Licht der Welt erblickte. Seine Vorfahren waren "Landjunker", denen im Spätmittelalter der wirtschaftliche und gesellschaftliche Aufstieg gelang, und die auch während der Renaissance ihre Stellung auszubauen vermochten. Doch es folgten mehr und mehr Familienoberhäupter, die sich besser auf das Ausgeben denn auf das Ansammeln von Geld verstanden, und bald war der wirtschaftliche Abstieg der Familie nicht mehr zu stoppen. Das Familienvermögen war schon auf einen Bruchteil seines ursprünglichen Umfangs zusammengeschrumpft, als Sherlocks Großvater Sheridan Holmes die Schwester des französischen Schlachtenmalers Vernet ehelichte; aus dieser Verbindung ging der Vater des Detektivs hervor, William Scott Holmes, ein exzentrischer Gentleman, der einen Großteil seiner Zeit darauf verwandte, die genaue geografische Lage des Gartens Eden zu bestimmen. Holmes' Mutter wiederum verstarb bereits früh an Schwindsucht - vielleicht ein Grund für das gespaltene Verhältnis, das ihr Sohn zeitlebens zu Frauen hatte. Sherlocks apathisches Verhalten während seiner Kindheit wies, wie Rennison konstatiert, durchaus autistische Züge auf, wobei das äußerst problematische Kind seinen älteren Bruder Mycroft abgöttisch verehrte. Es folgte ein nur mit mäßigem Enthusiasmus absolviertes Studium der Naturwissenschaften in Oxford, an das sich der wenig standesgemäße Wunsch anschloss, Schauspieler zu werden; Sherlock, dessen Liebe zum Theater ähnlich wie auch bei Goethe durch ein Puppentheater geweckt wurde, das er als Kind geschenkt bekommen hatte, schloss sich der Truppe Henry Irvings an und debütierte 1874 in Irvings bahnbrechender Hamlet-Inszenierung - womöglich jedoch nur in der stummen Rolle eines Speerträgers.

Doch auch das Theater vermochte ihn nicht lange zu halten; er nahm nach dem Tod des Vaters sein Studium wieder auf, verließ die Universität allerdings schließlich ohne Abschluss und ging nach London, um sich dort als "einziger beratender Detektiv weltweit" niederzulassen. Am Neujahrstag 1881 ereignete sich dann die folgenschwere Begegnung mit John Hamish Watson, einem just aus Afghanistan zurückgekehrten Militärarzt, der nach seiner Entlassung aus der Armee als Kriegsversehrter physisch und psychisch stark angegriffen war. Beide gründeten eine Art viktorianische Junggesellen-WG, und Watson entwickelte sich zu Holmes' Eckermann, indem er die spektakulärsten Fälle des Detektivs schriftlich festhielt. Da der Arzt jedoch keinerlei Verbindungen zur literarischen Welt besaß, wurden Holmes' Fälle einem größeren Publikum erst bekannt, nachdem Watson dem bis dato relativ erfolglosen schottischen Arzt und Schriftsteller Arthur Conan Doyle begegnete. Zusammen gelang es den beiden schriftstellernden Männern, Sherlock Holmes nach und nach zur kriminalistischen Ikone zu stilisieren. Dabei nahmen sie sich allerdings so manche schriftstellerische Freiheit - sehr zum Leidwesen des Detektivs selbst, der, wie Rennison anhand einiger Briefe belegen kann, mit der oftmals reißerischen Darstellungsweise alles andere als einverstanden war. Mehr Diskretion hingegen bewiesen Watson und Doyle im Hinblick auf die in Holmes' diverse Kriminalfälle verwickelten Personen: Rennison weist nach, dass viele der in den Geschichten verwandten Namen reine Fiktion sind, häufig genug benutzt, um hochrangige Persönlichkeiten zu schützen, denn, so die Quintessenz der Biografie, Holmes war schließlich in alle zentralen Kriminalfälle der Zeit involviert. Der Biograf schildert nicht nur Holmes' unermüdlichen Kampf gegen seinen Erzfeind Moriarty, den "Napoleon des Verbrechens", sondern auch die letzten Jahre des Kriminalisten auf seinem Landsitz in Sussex, wo Holmes bis zu seinem Tod am 23. Juni 1929 seinen Lebensabend mit dem Züchten von Bienen verbrachte und sich wohl zuweilen auch gerne die zahlreichen zeitgenössischen Verfilmungen seiner Abenteuer ansah.

Ganz offensichtlich: In seiner "Biographie" treibt Rennison ein Spiel, auf das man sich als Leser zunächst einlassen muss. Die fiktive Biografie einer fiktiven Person mag nicht jedermanns Sache sein und scheint zunächst primär die hartgesottene Sherlock-Holmes-Fangemeinde anzusprechen, die in Rennisons Ausführungen eventuell sogar die eine oder andere Ungereimtheit entdecken mag. Doch dieser Schein trügt. Rennisons Buch ist weit davon entfernt, auf dem Niveau eines Fanzines dahinzudümpeln, in dem sich Afficionados an Insiderpointen vergnügen. Ganz im Gegenteil erweist sich die Biografie als bemerkenswerter Schachzug, verbindet Rennison mit der Darstellung einer fiktionalen Vita doch die Darstellung realer historischer Ereignisse. Dadurch gelingt ihm mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit genau das, was man in 'seriösen' Kulturgeschichten meist vergeblich sucht: Fern ab von intellektuell überkomplexen Theoriegebäuden und jenseits von Levi-Strauss und Greenberg bietet Rennison dem Publikum ein ebenso informatives wie amüsantes Bild britischer Geschichte der 1850er- bis 1920er-Jahre.

Schließlich war Holmes einer der führenden Köpfe seiner Zeit und ist als solcher zunächst schon fast eine Personifikation spätviktorianischer Mentalitäten: Absolute Rationalität und unbedingter Fortschrittsglauben verbinden sich in Holmes mit einem tief verwurzelten Misogynismus und einer zumeist gut verborgenen Drogensucht. Da der Detektiv (angeblich) an allen zeitgeschichtlich wichtigen Ereignissen direkt oder indirekt beteiligt war, kann Rennison den Leser an seinem beachtlichen Geschichtswissen teilhaben lassen und spannt einen zeitgeschichtlichen Bogen von "Jim the Penman", einem 1857 nach Australien deportierten Fälscher, über den Anarchisten Eugène Huret, "Jack the Ripper" und Dr. Crippen, bis hin zu den Curies, die angeblich auf Holmes' Forschungen zurückgriffen.

Doch auch Skurriles weiß Rennison zu berichten: So etwa, dass Holmes während des "Great Hiatus", einer Zeit seines Lebens, über die bislang kaum etwas bekannt war, unter anderem Asien und vor allem Tibet bereiste, ein Land, das aufgrund seiner Unerreichbarkeit eine schier mystische Anziehungskraft auf die reise- und entdeckungsfreudigen Viktorianer ausübte. So auch auf Annie Royle Taylor, eine Presbyterianerin, deren erklärtes Ziel es war, keinen Geringeren als den Dalai Lama höchstpersönlich zum Christentum zu bekehren. Sie nahm die strapaziöse Reise auf sich, nur um von den tibetischen Behörden, wie alle Ausländer, wieder des Landes verwiesen zu werden; im Gegensatz zu dem weitaus weniger glücklichen Henry Savage Landor zwang man sie dabei jedoch nicht, auf einem mit Eisendornen gespickten Sattel zu reiten. Unbeirrt von allen Unbill schlug Taylor ihre missionarischen Zelte im chinesisch-tibetischen Grenzland auf und konnte nach einem Jahr angestrengter Bekehrungsversuche (mäßige) Bilanz ziehen: Es war ihr gelungen, genau einen jungen Mann aus Lhasa zu bekehren.

Anlässlich von Holmes' Aufenthalten in Persien und dem Sudan beleuchtet Rennison die britische Kolonialpolitik, und seine Ausführungen zum so genannten "Royal Baccarat Scandal", in dessen Verlauf der Prince of Wales in eine Verleumdungsklage verwickelt wurde, gewähren Einblick in das Familienleben der viktorianischen Royals. Rennison legt dar, wie auch Holmes zunehmend von zeitgenössischen Firmen als Werbeträger entdeckt wurde und dass er sich dabei in bester Gesellschaft befand. Während Robert Baden-Powell und Rudyard Kipling den Verzehr des Fleischextrakts Bovril propagierten, verdiente sich Oscar Wilde ein wohl nicht gerade geringes Zubrot durch Werbung für das Produkt einer gewissen Madame Fontaine: Aus unerfindlichen Gründen hielt Madame, deren Werbeslogan "So sicher wie die Sonne morgens wieder aufgeht, so sicher wird ihr Busen durch diese Creme vergrößert und verschönert" lautete, den Dandy für die ideale Person, um ihr Busenvergrößerungsmittel zu bewerben.

Doch auch über Conan Doyle selbst erfährt der Leser einiges - so etwa, dass sich der Autor auf die Seite einiger Mädchen aus Cottingley in Yorkshire stellte, die 1917 behaupteten, sie seien in den örtlichen Wäldern Elfen begegnet. Als 'Beweis' lieferten die ausgesprochen fantasiebegabten Mädchen eine Reihe von Fotografien, bei denen sie ausgeschnittene Elfenbilder so in der Landschaft arrangiert hatten, dass man (bei viel gutem Willen) meinen konnte, die Fabelwesen seien real. Hier, so Rennison, hätte der Autor auf Holmes hören sollen, der ihm telegraphiert habe: "Keine Elfen auf Gartengrund Cottingley. Kleine Mädchen kleine Lügner." Tatsächlich war Conan Doyle aber bis zu seinem Tod fest von der Existenz der Elfen und der Authentizität der Bilder überzeugt.

Insgesamt wartet Rennisons "Sherlock Holmes" nicht nur mit einer Vielzahl von Informationen zum fiktionalen Meister der logischen Kombination auf, sondern zeichnet gleichzeitig ein Bild britischer Geschichte, das ebenso informativ wie kurzweilig ist. Dass die Lektüre des Bandes darüber hinaus auch ein sprachliches Vergnügen ist, liegt nicht zuletzt an der ausgesprochen gelungenen deutschen Übersetzung.


Titelbild

Nick Rennison: Sherlock Holmes. Die unautorisierte Biographie.
Übersetzt aus dem Englischen von Frank Reiner Scheck und Erik Hauser.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2007.
279 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783538072466

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