Von der Kraft eines Bildes
Gijs van Hensbergen erzählt die "Biographie" des Picasso-Bildes "Guernica"
Von H.-Georg Lützenkirchen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGuernica - der Name der baskischen Stadt steht für ein Kriegsverbrechen, das während des spanischen Bürgerkriegs begangen wurde. Am 26. April 1937 flog die "Legion Condor", eine Eliteeinheit der deutschen Luftwaffe, einen zerstörerischen, militärisch sinnlosen Angriff gegen die Stadt, dem mehrere hundert Zivilisten zum Opfer fielen. Erstmals erlebte die Welt die Schrecken dessen, was die Nazis als Bombenkrieg hier zynisch einübten. Guernica - der Name steht aber auch für die universale Klage (und den Widerstand) gegen Krieg und tödliche Zerstörung, symbolisiert in Picassos Bild "Guernica".
"Guernica - Biographie eines Bildes" betitelt Gijs van Hensbergen sein 2004 erschienenes und jetzt in deutscher Übersetzung vorliegendes Buch. In der angelsächsischen Tradition der ,erzählenden' Geschichtsschreibung liefert der Autor kenntnisreich und umstandslos eine Geschichte des Bildes und seiner Wirkung im 20. Jahrhundert. Einer kunstgeschichtlichen Betrachtung enthält sich der Autor dabei weitgehend. Er verzichtet auf eine tiefergehende inhaltliche Analyse des Bildes, seine gelegentlich einfließenden Interpretationen bleiben oberflächlich. Allerdings ist es auch nicht seine Absicht, eine fachwissenschaftliche Abhandlung zu liefern. Was zum Inhalt des Bildes, zu seiner kunstgeschichtlichen Bedeutung sowie den einzelnen Bildmotiven aus Picassos Ikonografie (Pferd, Stier, Frau, Kind, Krieger und anderem) zu sagen ist, zitiert van Hensbergen jeweils aus anderen Quellen, so aus Äußerungen von Zeitgenossen, Zeitungsartikeln und Kritikerbesprechungen. So kann der Autor seine erzählende Perspektive einhalten, was dem Fluss der Erzählung zugute kommt.
Die Rahmendaten der Geschichte des Bildes "Guernica" sind weitgehend bekannt. van Hensbergen füllt diese mit zusätzlichen Informationen, die neue und interessante Bezüge herstellen - vor allem zur Wirkungsgeschichte des Gemäldes. Den Auftrag, den Pavillon der spanischen Republik auf der Pariser Weltausstellung 1937 mitzugestalten, hatte Picasso bereits 1936 bekommen. Lange blieb unklar, was der Maler zu liefern gedachte. Erst die Tragödie in Guernica setzte einen Schaffensprozess in Gang, in dessen Verlauf in wenigen Wochen das Bild entstand. Inzwischen aber sah sich die Republik in einen mörderischen Abwehrkampf gegen die faschistische Opposition General Francos verwickelt. In diesem grausamen Bürgerkrieg spielte auch die Propaganda eine wichtige Rolle. Als deshalb das Bild im luftig modernen spanischen Pavillon, der in unmittelbarer Nachbarschaft zum wuchtig-repräsentativen Bau der Nazis stand, zu sehen war, war dies auch ein Propagandaerfolg der Republik: einer der berühmtesten zeitgenössischen Künstler hatte sich auf ihre Seite gestellt, und sein Bild lenkte die Aufmerksamkeit auf ein Kriegsverbrechen, das die faschistische Propaganda leugnete. Aber über diesen unmittelbaren Bezug hinaus erfuhren die damaligen Betrachter des Bildes noch mehr. Sie sahen das Bild eines Künstlers, dem es gelungen war "ein tatsächliches historisches Ereignis zu dramatisieren, ohne dabei [...] in Klischees und Theatralik zu verfallen." Sie spürten eine "Aufrichtigkeit", die "Guernica" als eine Klage gegen das von Menschen verursachte Leid und die Zerstörung glaubhaft und zu einer universalen Aussage machte.
Nach der Weltausstellung schien das Bild heimatlos. In Spanien hatte das faschistische Regime Francos die Republik zerstört und nach einer mörderischen Zeit der Abrechnung richtete man sich auf eine Regierungszeit ein, die annähernd 40 Jahre dauern sollte. Hier konnte es keinen Platz für das Bild geben. Nachdem es in England zu sehen gewesen war, kam es schließlich nach New York. Im Museum of Modern Art hatte ihm der erste Leiter des Museums, Alfred Barr, eine vorläufige Bleibe verschafft. "Guernica kam für Amerika wie gerufen, eine Ikone, die den Geist ihrer Zeit genau widerspiegelte." Sehr anschaulich erzählt van Hensbergen, wie "Guernica" das Selbstverständnis der amerikanischen Kunstszene, die sich angeschickt hatte, Paris als "künstlerische Hauptstadt" der Welt den Rang abzulaufen, beeinflusste. Am Beispiel der zuweilen selbstquälerischen Auseinandersetzung des Action-Painters Jackson Pollock mit dem Bild schildert er eine produktive Emanzipation, die nach 35 Jahren ihren sinnbildlichen Ausdruck fand: Pollock konnte 1981 Picassos ,Platz einnehmen', als an die Stelle, wo "Guernica" hing, sein Bild "One" aufgehängt wurde.
Doch die unangefochtene "Schlüsselrolle", die Picassos Bild beim "Urknall" der amerikanischen Kunst spielte, schützte es nicht vor den Hysterien der antikommunistischen Aktivitäten der 1950er-Jahre. ",Rote' unter jedem Bett" nennt der Autor das Kapitel über die kleingeistigen Diffamierungen, denen sich Picasso und viele andere von Senator McCarthy und Konsorten ausgesetzt sahen. Kein Argument schien zu schwachsinnig, um den "subversiven" kommunistischen Charakter des Künstlers und seiner Werke nachzuweisen. "Guernica" war unterdessen seit 1953 auf einer vierjährigen Europatournee, die das Bild auch nach München, Köln und Hamburg brachte.
Seit den 1960er-Jahren änderte sich auch in Spanien langsam das Klima. In Barcelona wurde 1963 das Picasso-Museum eröffnet und es "war immer offenkundiger geworden, dass die Bewunderung für Picasso und für Guernica ein effektives Mittel war, mit dem sich Sympathie für eine Unmenge an Ideen signalisieren ließ, die sich gegen die etablierte Ordnung richteten." Dennoch wurde die ,Versöhnung' Spaniens mit Picassos und die Überführung des Bildes nach Madrid erst nach Francos Tod 1975 möglich. 1981 war es soweit: Zunächst wurde das Bild im Prado ausgestellt, seit 1992 hängt es im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía.
Am 5. Februar 2003 präsentierte der damalige US-Außenminister Colin Powel im Vorraum zum Sitzungssaals des UN-Sicherheitsrates der Welt die angeblichen Beweise für die Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins zur Rechtfertigung des Angriffs auf den Irak. In diesem Raum hängt seit 1985 eine von Nelson Rockefeller gestiftete Kopie des Bildes "Guernica". Als Colin Powell seine ,Beweisfotos' zeigte, war das Bild nicht sichtbar. Auf Drängen der US-Regierung hatte man es verhüllt. Traute man den eigenen Bildern nicht zu, vor dem einen Bild zu bestehen? Die peinliche Episode belegt die bis heute wirkende Kraft des Gemäldes. Van Hensbergen erzählt anschaulich von dieser Kraft in seiner anregenden "Biographie eines Bildes."