Gebrochene Handschwingen und die Suche nach Kyp

Clem Martini setzt seine spannende Krähen-Chronik mit "Die Pest" fort

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Müde ist die Entscheider-Krähe geworden, alt und gebrechlich. Und die Zeiten haben sich geändert: andere sollen die Führung übernehmen, am besten Kym und Kyp gemeinsam. Kyp ist gar nicht einverstanden, er meint, er kann das nicht, er sei viel zu impulsiv. Aber dann muss er es auch nicht: Denn bevor es zur nächsten Versammlung kommt, fegt eine schreckliche Krankheit über das Land. Nur wenige überleben, der Rest ist in alle Winde zerstreut. Auch Kym überlebt, schwerkrank, aber sie wurde von Menschen in einen Käfig gesteckt und abtransportiert. Irgendwohin. Und der letzte Satz des sterbenden Entscheiders ist: "Finde sie."

Es wird eine lange Reise, bis er sie findet, mit vielen Abenteuern. Getrieben von einer Ahnung fliegt Kyp nach Osten, bis er ans Meer kommt. Auf dem Weg dahin trifft er erst den redseligen und ziemlich frechen Katakata, "Reisender, Ausgestoßener und Dieb", dann ein seltsames Dreiergespann, Kyf, Kaf und Kwaku. Das Erstaunliche an Kwaku ist, dass er Dinge sieht, die in der Zukunft passieren. In einer nahen oder auch fernen Zukunft. Nicht nur, dass gleich ein Fuchs vorbeikommen wird. Sondern manchmal ganz Unverständliches, bizarre Bilder, wie den gefährlichen Fluss, in den sie geraten werden: "Wenn alles zu schwimmen scheint, gibt es zwei mögliche Wege. Der eine wird uns zerschmettern, der andere wird uns ertränken. Das Einzige, was dagegen zu tun ist, ist einen dritten Weg zu wählen." Und schließlich treffen sie eine schwarz und weiß gefiederte Krähe, aus einem fernen Land. Nach vielen Mühen, nach Kämpfen mit anderen Krähen, Eulen und Adlern, nach einer langen, geduldigen Suche in einer riesigen Stadt finden sie alle zusammen die entführte Kym.

Der zweite Band der "Krähen-Chronik" von Clem Martini ist genauso spannend und fantasievoll wie der erste, "Der Mob", in dem sich Kyp gegen drei blutrünstige Katzen und einen bösartigen Sturm durchsetzen konnte. Auch in "Die Pest" geht es um tödliche Gefahren, die man eigentlich nur bestehen kann, wenn man sich mal nicht an die Regeln hält, wenn man Geduld und Ausdauer hat und, vielleicht als Wichtigstes: wenn man nicht allein ist. Krähen leben wie Menschen in einer Gemeinschaft. Jede Krähe ist anders: eine ist eifersüchtig, eine ist missgelaunt, andere sind fröhliche Tunichtgute. Aber wenn sie zusammenhalten, sind sie stärker, ausdauernder und erfindungsreicher als einer allein. Jeder hat etwas beizutragen, selbst wenn es Geschichten sind: "Ich erzählte ihr eine Geschichte, sie erzählte mir eine. So ist das nun mal unter Vögeln, die reden, Kyp", sagt Katakata einmal.

Das schönste an diesem Buch aber ist, dass die Krähen ganz normale Wesen sind, dass man sofort in ihre Seele hineinschauen kann, sich so schnell mit ihnen identifiziert, dass es nach nur wenigen Seiten ganz normal ist, wenn man von gebrochenen Handschwingen hört, von gegessenen Ameisen, von Flugkunststücken, von Frechheiten gegenüber einer Eule. Und dass wir, die Menschen, plötzlich ganz seltsame Kreaturen sind, von außen betrachtet, mit Krähenaugen. Die sich eigenartig benehmen, nicht durchschaubar sind, mit höchstem Misstrauen zu betrachten. Spannend und aufklärend, fantasievoll, aber in jeder noch so kleinen Schwanzfeder höchst realistisch ist diese Identifikation der Clou des Buches, der, wie der erste Band, eine atemberaubende Abenteuer-, eine spannende Freundschaftsgeschichte und gleichzeitig ein aufklärendes, etwas melancholisches Ökologiebuch ist. Die Krähen-Chronik, die fortgesetzt wird, ist wahrhaftig eine Reihe mit einem starken Suchtfaktor.


Titelbild

Clem Martini: Die Pest. Die Krähen-Chronik Band 2.
Übersetzt aus dem Kanadischen von Uwe-Michael Gutzschhahn.
Bloomsbury Berlin, Berlin 2007.
320 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783827050656

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch