Die Liebe in ihren Variationen
"Goodbye Istanbul" von Esmahan Aykol erzählt eine alte Geschichte neu
Von Katrin A. Schneider
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Die Migration [...] ist so alt wie die Menschheit selbst", sagt Ece, die Protagonistin in Esmahan Aykols Roman "Goodbye Istanbul". Sie sagt es mit Blick darauf, dass das erste sich liebende und erkennende Paar aus dem Paradies vertrieben wurde. Migration erscheint damit als Grundpfeiler des Menschseins; ebenso wie die Liebe als deren treibende Kraft. Beides ist in Aykols drittem Roman auf's Engste miteinander verwoben.
"Goodbye Istanbul" thematisiert jene oft durchgespielten Motive, die man aus der deutsch-türkischen Literatur kennt. Die Geschichte ist ebenso die Entwicklungsgeschichte einer Heranwachsenden in der Türkei wie Feridun Zaimoglus "Leyla". Sie ist eine Geschichte vom Weggehen und Loslösen, wie Emine Sevgi Özdamars Roman-Trilogie "Sonne auf halben Weg". Sie ist aber auch, wie auch schon Aykols Kriminalromane "Hotel Bosporus" und "Bakschisch", eine fein beobachtete Geschichte über das Leben in zwei Kulturen, von Fremdheit und Ausgeschlossenheit.
"Goodbye Istanbul" gehört zweifellos dem Genre der deutsch-türkischen Literatur an und ist von Zaimoglu und Özdamar einzig durch die Sprachbarriere getrennt. Obwohl sie es vielleicht könnte, schreibt Aykol - die 1998 nach Deutschland kam - nicht auf deutsch.
Worum es in ihrem neuen Roman jedoch im Kern geht, ist nicht leicht zu bestimmen. Er ist von einer dezentrierten Erzählweise beherrscht, die den Leser immer wieder von der Handlung weg auf Nebenschauplätze lockt. Die Migrationsproblematik, die Entwicklungsgeschichte und die Vertreibung der Armenier sind dabei drei dominante Themen. Sie liefern dennoch nicht viel mehr als den Erzählhintergrund und werden aber nicht wertend betrachtet. Sie sind die Folie, auf der von der Liebe erzählt wird - von allen Spielarten der Liebe, den guten und den schlechten. "Ein Jüngling liebt ein Mädchen" ist ein universaler, kultur- und zeitübergreifender Plot. Und er bleibt immer die gleiche, alte Mär.
Esmahan Aykols Protagonistin in "Goodbye Istanbul", Ece, flieht vor einer unglücklichen Liebe nach London in die Einsamkeit. Sie flieht aus der geliebten Stadt, weg von den Erinnerungen an den liebvollen Großvater, der sie wie eine Tochter angenommen hat. Der Großvater fungiert zudem als unsichtbarer Drahtzieher ihres jetzigen Lebens. Fast wie der Autor, der eine Figur erschafft, hat der Großvater die Identität Eces in mehrfacher Hinsicht bestimmt. Er hat ihr ein Erbe hinterlassen, das sie absichern soll und das Ece mit nach London nimmt. In langen Kinderjahren hat er seiner Enkelin die Geschichten weitergegeben, auf denen sich sein Leben aufgebaut hat. Es sind Geschichten von dem Verbrechen, die nach 2000 Jahren friedlicher Coexistenz zur Vernichtung und Vertreibung der türkischstämmigen Armenier geführt hat. Dieses Grauen gibt er in betont geborgener Atmosphäre und verknüpft mit Geschichten voller Liebe an Ece weiter, so dass dieses Geflecht einen Schimmer Weltvertrauen in sich trägt. Ein Vertrauen in den Gang der Dinge nämlich, der Glaube an eine gewisse Schicksalhaftigkeit, die einen befähigt, sich aus guten und schlechten Erinnerungen eine harmonische Identität zu schaffen.
Eces Großvater hat aus diesem Schicksal, aus seinem eigenen Leben, aus den Sagen seines Volkes und jenen der Region eine mystifizierte Ahnen- und Vertreibungsgeschichte entwickelt, die er der Enkelin tradiert. Dieses Geflecht ist derart schillernd, verworben und dicht verschlungen, dass die Einzelheiten der Geschichten sich wie die Edelsteine auf den wertvollen Ringen, die der Großvater als Goldschmied herstellt, zart aneinander fügen. Zu diesem wertvollen Schatz kommt ein zweites Erbe: ein Sparbuch, das Ece, wie die Geschichten, eine geschützte Zukunft bescheren soll.
Wäre nicht Eces unglückliche Liebe zum verheirateten Tamer in Istanbul, die sie zur Flucht getrieben hat und die sie innerlich ausgezehrt hat, wäre sie vielleicht selbst eine leuchtende Figur im Märchengeflecht der großväterlichen Erzählungen. Aber eben diese verzwickte Beziehung zu Tamer, der sich nicht für eine Frau entscheiden kann oder will, treibt Ece fort und lehrt sie die unschöne Seite der Liebe. Die Seite von Schmerz, der den Körper auszehrt; von den Berührungen auf ihrem Körper, die derart fehlen, dass es unter der Haut brennt; von einem entzwei gebrochenen, wunden Herzen. In London will sie vergessen - jedoch nur die quälenden Erinnerungen an die Affäre mit Tamer. Die anderen, die liebevollen und warmherzigen Kindheitserinnerungen an den Großvater, will sie behalten. Sie wechselt zwischen dem Wunsch nach Erinnern und Vergessen hin und her.
In diesem Spannungsfeld fällt es Ece schwer, irgendwo dazuzugehören. Durch das geerbte Vermögen eigentlich nicht zur Arbeit gezwungen, versucht sie sich dennoch als Tellerwäscherin, um einer Gemeinschaft - der der Arbeitsmigranten - anzugehören. Und auch, weil sie hofft, mit dem Spülwasser ihr inneres Feuer zu löschen. Sie erkennt jedoch bald, dass nur eine mit anderen Menschen geteilte Sprache sie tatsächlich aus der Isolation herausholen kann und entscheidet sich gegen den Knochenjob und für intensives Englischlernen. Der Erfolg bleibt nicht aus, sie lernt Menschen kennen; Freundschaften bahnen sich an, die ihr verrutschtes Herz wieder an den richtigen Fleck zurückbringen. Nach dem Vorbild des Großvaters, in der Fremde ein neues Leben anzufangen, in das gute und schlechte Erinnerungen gleichermaßen integriert werden können, macht auch Ece erste Schritte in diese Richtung. Sie gewinnt erstmals eigenes Vertrauen in die Welt.
Auch wenn die Migration der dominante fiktionale Bezugsrahmen ist, so erzählt Esmahan Aykol auch von einem anderen Wechsel, der mindestens ebenso aufreibend sein kann. Die Protagonistin steht auf der Schwelle zum Erwachsensein, die sie mit der Erfahrung der Liebe überschreitet. Sie verlässt die Eltern und wird selbstständig. Sie verlässt die bekannte Stadt ihrer Kindheit, die ihr vertraute Sprache in ein eigenes Leben. Entsprechend endet der Roman mit dem vorausschauenden Gedanken Eces, der auf die Leichtigkeit ihres weiteren Seins und auf dessen neuen Rahmen hinweist: "Wir werden beim Küssen älter werden und erwachsen."
Der Roman lebt von der Verquickung der Geschichten untereinander. Auch wenn dies oft den Eindruck evoziert, die Handlung habe sich verloren, führt Esmahan Aykol dennoch geschickt die Fäden immer wieder aufs Neue zusammen. Durch die Verknüpfung uralter Mythen und Legenden mit ihrem eigenen Schicksal und ihren Erfahrungen gewinnt ihre Protagonistin dort eine Kontinuität für ihr Leben, wo sie sie längst verloren glaubte. Eine Kontinuität, die nicht an einen geografischen Ort oder eine bestimmte Sprache gebunden ist, sondern die sich allein aus einer Geschichte, einer geteilten Fiktion zwischen zwei Menschen, aus einem Text ergibt. Und so schließt der Roman mit der Feststellung, dass das Leben nichts als ein unendliches Meer von Erzählungen ist: Vielleicht wird in einem späteren Roman alles ganz anders gewichtet sein. Aber das ist eine andere Geschichte.
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