Das Privileg der Literatur

Ein von Ursula Link-Heer, Ursula Henningfeld und Fernand Hörner herausgegebener Sammelband begibt sich auf die Suche nach literarischen Gendertheorien in den Werken von Marcel Proust und Sidonie-Gabrielle Colette

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Werke von Sidonie-Gabrielle Colette und Marcel Proust scheinen auf den ersten Blick wenig gemein zu haben. Entsprechend selten wurden sie bislang von der Literaturwissenschaft nebeneinander gestellt. Ein von Ursula Link-Heer, Ursula Henningfeld und Fernand Hörner herausgegebener Sammelband unternimmt dieses Wagnis und zugleich den Versuch, in ihnen literarische Gendertheorien aufzuspüren. Die AutorInnen des Bandes gelangen zu ebenso innovativen wie erstaunlichen Ergebnissen. Was nicht nur daran liegen dürfte, dass die meisten dem dekonstruktiven Feminismus verpflichtet sind, was ja alleine fast schon die Qualität des Bandes verbürgt.

Die allen Beiträgen gemeinsame Ausgangsfrage lautet, "ob Konzepte wie das der 'hommes-femmes' (Proust) oder des 'hermaphrodisme' (Colette) überhaupt auf der Höhe der realisierten Texte sind oder ob die Schreibbewegung nicht vielmehr solche epochentypischen Denkfiguren überschreitet". Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich alle Beitragenden ausschließlich auf die Werke der beiden LiteratInnen konzentrieren würden. Vielmehr verlangt die Fragestellung geradezu danach, feministische oder gender-theoretisch geschulte Texte anderer AutorInnen und WissenschftlerInnen heranzuziehen. So führt Françoise Rétif das literarische Werk Colettes mit den Theorien Simone de Beauvoirs und Julia Kristevas zusammen. Eine Gemeinsamkeit zwischen Colette und Beauvoir macht Rétif darin aus, dass Denken, Lieben und Schreiben für beide "drei komplementäre Formen des In-der-Welt-Seins" seien. Hiermit betrieben sie "die radikalste Art der Geschlechterdekonstruktion". Denn diese wirke sich nicht nur auf die "Beziehung zum biologischen Geschlecht und zum Körper" aus, sondern ebenso wohl auf diejenige zu Kunst und Kultur, Kunst und Leben sowie auf den Gegensatz zwischen Geist und Materie. "Auf diese Weise werden alle Dichotomien geschwächt." Kristeva wiederum habe "meisterhaft ans Licht gebracht", dass die Überwindung der Geschlechterdichotomie ein "konstitutiver Bestandteil" von Colettes Schreiben gewesen sei.

Ebenfalls auf Colette konzentrieren sich Élène Cliche und Vera Elisabeth Gerling. Cliche geht der "Destabilisierung der Geschlechter" in Colettes Werken nach und zeigt, dass die Autorin eine "Virtualität in der Formbarkeit des ungewissen Geschlechtes" vorführt, die das "Potential der Veränderbarkeit des Gender" ausschöpft. Gerling liest Colettes Werke "im Sinne eines dekonstruktive Feminismus" als "subversive Ästhetik der Moderne, die sich von der Mimesis verabschiedet und den Blick auf die Materialität der Sprache selbst lenkt", um die sprachlich konstituierten Ordnungen "zu unterlaufen", und gelangt zu der Schlussfolgerung, dass Colettes Texte "metasprachliche Reflexionen" enthalten, hinter denen sich nicht weniger als eine "kritische, implizite Sprachtheorie" verbirgt.

Urs Urban, Gregor Schuhen und Torben Lohmüller interessieren sich hingegen mehr für Proust. Urban verortet die "Homosexualität bei Proust", Schuhen wendet sich unter dem Titel "Der bewegte Mann" Proust und der "Ästhetik des verschwindenden Körpers" zu und Lohmüller erklärt einem alles, was man "schon immer über den Masochismus wissen wollte, Proust aber nie zu fragen wagte".

Soweit könnte der Eindruck entstehen, dass sich die Autorinnen des Bandes Colette zuwenden, die Autoren hingegen Proust. Dem ist jedoch nicht so, nicht ganz zumindest. Auch Uta Feltens und Vittoria Borsòs Beiträge gelten dem Autor der "Recherche". Andere wie Walburga Hülk oder Eva Erdmann widmen sich beiden AutorInnen.

Eines der überraschenden Ergebnisse des vorliegenden Bandes besteht in der grundlegenden Erkenntnis, dass das "Theorieverbot, das Proust wie Colette auf verschiedene Weise aufzustellen scheinen, durch die literarischen Œuvres selbst unaufhörlich unterlaufen" wird, und sich aus ihren literarischen Werken tatsächlich so etwas wie eine Gendertheorie herauslesen lässt.

Aus dem thematischen Rahmen fällt Stefan Horlachers Aufsatz, der von den Werken Prousts und Colettes absieht und ganz allgemein das "Verhältnis von Lebenswelt, Men's Studies, Gender Studies und savoir littéraire" erörtert. Ein Beitrag, der die gestellte Aufgabe, "die im vorliegenden Band versammelten Analysen vorzubereiten und auf einer theoretischen Ebene sowohl nach den Grundlagen der Möglichkeit als auch nach der potentiellen 'extratextuellen' Relevanz literarischer Gender-Theorien zu fragen", auf gerade mal vierundzwanzig Seiten mehr als zufriedenstellend löst. Erwähnenswert ist zunächst einmal, dass er nicht nur die am dekonstruktiven Feminismus sowie an der Diskursanalyse und der postfreudianischen Psychoanalyse orientierten "New Men's Studies" benennt und als "sicherlich anspruchvollste Ausprägung" der vielfältigen und uneinheitlichen Men's Studies hervorhebt, sondern dass er auch kritisch auf deren misogyne Konkurrenten innerhalb der Männer- und Männlichkeitsforschung hinweist. Das ist erfreulich. Wichtiger aber ist noch, dass Horlacher das "Privileg der Literatur" betont, über eine bloß "konstatierende Darstellung oder Kritik" hinausgehen und "neue 'Realitäten'" erzeugen zu können. Gerade im Bereich Gender, so Horlacher, könne Literatur "marginalisierten Gruppen oder unterdrückten und sich der bewussten Wahrnehmung entziehenden Unsicherheiten eine Stimme verleihen".


Titelbild

Ursula Link-Heer / Ursula Henningfeld / Fernand Hörner (Hg.): Literarische Gendertheorie. Eros und Gesellschaft bei Proust und Colette.
Transcript Verlag, Bielefeld 2006.
285 Seiten, 27,80 EUR.
ISBN-10: 389942557X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch