Böhmen - der sechste Kontinent

Eingerexte Reizger und andere deftige Gerichte zum "Böhmischen Richtfest"- mit Gerold Tietz kommt ein barocker böhmischer Erzähler zu Wort

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Mon petit tchèque!" hatte die französische Hauswirtin erfreut ausgerufen. Der junge Student Gerold Tietz war ihr sympathisch und sie hatte ihm zu ihrem Bedauern mitteilen müssen, dass sie es ihren Mietern nicht zumuten könne, einen Deutschen einzuquartieren. Es war der Zimmerwirtin die aufrichtige Erleichterung anzumerken, als Gerold Tietz ihr bedeutete, dass er 1941 in Horka, einem böhmischen Dorf, geboren wurde. So wurde aus ihm ein "kleiner Tscheche"!

Die biografischen Verwicklungen seiner Herkunft samt Vertreibung und Nachkriegssozialisation bilden für Gerold Tietz eine beredten Hintergrund seiner Romane und Erzählungen, die zum Teil übrigens auch in das Tschechische übersetzt wurden.

Der Roman "Böhmisches Richtfest" entfaltet in 22 Kapiteln eine Familiensaga, deren geografischer Ausgangspunkt im nordböhmischen Horka bei Dauba liegt. Die Vertreibung der deutschstämmigen Böhmen aus der Tschechoslowakei, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eingesetzt hatte, hatte auch diese Familie in den Westen verschlagen. Gernot, die Hauptfigur des Romans, wurde in diesem Dorf geboren, wuchs aber in einer schwäbischen Kleinstadt auf. Ohne große Mühe lassen sich Übereinstimmungen zwischen dem Autor Gerold Tietz und jenem Gernot Tiel aus dem Roman ausmachen.

Gernot und sein kleiner Bruder Hagen wachsen mit ihrer Mutter Anna auf. Es wird aber auch von der Sängerin Magda, der Tante Rosa oder Mizzi aus dem Böhmerwald berichtet, deren Schicksale eng mit der Familie verbunden sind. Es werden Erlebnisse während der Flucht in den letzten Kriegswochen erzählt, vor allem aber Begebenheiten aus dem schwäbischen Tuttlingen, wo die Familie inzwischen in der Eisenbahnstraße untergekommen ist. Die Nachbarschaft besteht zumeist aus Personen, die es aus Ostpreußen, Schlesien, Pommern oder sogar aus Ungarn und Rumänien in das Schwäbische verschlagen hat. Entsprechend bunt und gemischt geht es zu. Für den kleinen Gernot liegen genügend Bilder und Geschichten, Gerüchte und Geheimnisse bereit und seine lebhafte Wahrnehmung lässt ihn nicht im Stich. In der Schule wird es einmal eng für ihn, als ihn der Lehrer vor der Klasse in Verlegenheit bringt, indem er nach Gernots Herkunft, ja nach dem Erdteil seiner Herkunft fragt. Die Pausenglocke verhindert seine Antwort, die er sich fest für die nächste Stunde vornimmt: "Ich komme aus dem sechsten Kontinent - aus Böhmen".

Dieser Roman entfaltet sich um seinen böhmischen Kern. Der Dreh- und Angelpunkt der Familienherkunft, das Dörfchen Horka in Nordböhmen, existiert allerdings lediglich in der Erinnerung und wird laufend durch Rückprojektionen inszeniert. Die Gegenwart des Erzählers findet hingegen anderswo statt: im schwäbischen Tuttlingen, im Paris der 1960er-Jahre, wo der junge Gernot als Student lebte oder auch im Prag der reformkommunistischen Monate unter Alexander Dubcek im Jahr 1968. Doch trotz aller Gegenwart - der böhmische Kontinent steckt Gernot in den Knochen. Ganz kreatürlich, wenn er alleine an die Essgewohnheiten der böhmischen Küche seiner Kindheit und Jugend denkt. Nicht jeder weiß etwas mit Buchteln, Kirschknödeln, Kleckselkuchen oder Tolken anzufangen: "So kunstvoll wie Anna zu klöppeln verstand, so fingerfertig wickelte sie das Gedärm eines Hasen ab, zog einem Karpfen, der mit den Augen noch glupschte, die Galle heraus und rexte junge Reizger ein".

Gerold Tietz beeindruckt mit seiner Sprachkraft, die sich nicht zuletzt einem aufmerksamen Studium dialektaler und soziolinguistischer Sprachverwendung verdankt. Eine gut durchkomponierte Erzähltechnik lebt von geschickt eingesetzten Rückblenden sowie inszenierten Traumsequenzen.

Eines der Kennzeichen in Gernots Erlebniswelt ist ein Hin- und Hergerissen-Sein, das in der Vertreibung seinen sinnfälligen Ausdruck findet. Es zeigt sich aber auch in den Konflikten seines sozialdemokratischen Vaters mit strammen nationalsozialistischen Mitläufern oder Anfeindungen seitens tschechischer Hitzköpfe. Aus "roten Schweinen" waren über Nacht "Nazischweine" geworden. Auf sudetendeutschen Jahrestreffen aber fühlt sich Gernot Tiel auch wieder als Fremder inmitten der eigenen Landsleute: "Ausgießung des Volksgruppengeistes, heilige Erde, Trommelwirbel und Fackellauf". Immer wieder sitzt Gernot Tiel zwischen den Stühlen.

Gerold Tietz hat einmal auf eine Reihe von Beschreibungen hingewiesen, die ihm im Laufe der Jahrzehnte zugedacht waren: "Karnickel, Watzlaw, Revanchist, Hundeschnäuziger, Hitlerist, Heimatdurchtriebener, Boche, Reingeschmeckter und Verzichtler". Die Zutreffendste fehlt: barocker böhmischer Erzähler!


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Gerold Tietz: Böhmisches Richtfest. Roman.
Verlag Karl Stutz, Passau 2007.
227 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783888490910

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