Wozu Kant lesen, wenn Foucault ihn für uns gelesen hat?

Feministische Wissenschaftlerinnen diverser Disziplinen gehen Transformationen von Wissenschaft, Mensch und Geschlecht nach

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Beantwortung dreier Fragen steht Immanuel Kant zufolge im Zentrum allen philosophischen Strebens: "Was kann ich wissen?", "Was soll ich thun?" und "Was darf ich hoffen?". Sie bündeln sich in einer entscheidenden vierten Frage, deren Beantwortung allerdings nicht mehr in den Aufgabenbereich der Philosophie, sondern in den der Anthropologie fällt: "Was ist der Mensch?". Susanne Lettow dürfte hingegen von sämtlichen Versuchen, die vierte Frage zu beantworten, herzlich wenig halten, will sie doch die ganze "unkritisch anthropologisierende Rede vom Menschen schlechthin" über Bord werfen. Denn sie verberge "systematisch alle Differenzen und Ungleichheiten, deren dominante Achsen mit der Trias von Klasse, 'Rasse' und Geschlecht benannt sind". Statt dessen empfiehlt sie, "die Frage nach der Transformation 'des Menschen' in die Frage nach neuen Subjektivierungsweisen zu übersetzen", also nach "neuen Arten und Weisen" zu fragen, "in denen die Individuen angehalten werden, sich zu sich selbst zu verhalten und sich damit immer wieder auch in Herrschaftsordnungen einzufügen".

Nun gibt es sicherlich gute bis sehr gute Gründe dafür, kulturelle Phänomene nicht zu anthropologischen Konstanten des Menschseins zu er- und zu verklären. Lettows prinzipieller Forderung nachzukommen, hieße aber Gefahr zu laufen, verschiedene doch recht erhaltenswerte Vorstellungen wie etwa die der Menschenwürde oder der Menschenrechte gleich mit zu entsorgen. Das allerdings wird wohl auch in ihrem Sinne nicht sein.

Ihre Argumentation gegen die Rede von dem Menschen entfaltet die Philosophin in einem von Irene Dölling, Dorothea Dornhof, Karin Esders, Corinna Genschel und Sabine Hark herausgegebenen Sammelband, der "transdisziplinäre Interventionen" zu verschiedenen "Transformationen von Wissenschaft, Mensch und Geschlecht" unternimmt. Das Buch fußt auf Vorträgen, die im Juni 2006 den Abschluss eines über fünf Jahre laufenden Projektes bildeten, das von der Universität in Potsdam und der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder mit dem Ziel durchgeführt wurde, "eine 'kritische Ontologie der Gegenwart' aus geschlechterkritischer und -theoretischer Perspektive zu entwerfen".

Wie man in ihrem Beitrag nachlesen kann, korrespondiert die anthropologisierende Rede vom Menschen Lettow zu folge mit einem Biologismus, den die Autorin griffig als "Naturalisierung von Sozialem im Rückgriff auf die Wissenschaft vom Leben" definiert. In ihrem erhellenden Text erläutert sie, dass und inwiefern sich zwei "gegensätzliche Tendenzen" unter diesem Begriff versammeln. Einerseits die "Neuartigkeit gegenwärtiger Biologismen, denen individualisierende und aktivierende Imperative eingeschrieben sind", andererseits aber auch die "Neuauflage von biologistischen Denkformen", die "deterministisch, objektivierend und passivierend" sind. Konzis legt Lettow die "Differenzen" und "Überschneidungen" beider Tendenzen dar und befasst sich abschließend mit der Frage, "wie feministische Kritik ihnen entgegentreten kann". Kant spielt bei alldem keine Rolle.

Ein größeres Interesse an dem Königsberger Weltweisen und seinen Antworten auf entscheidende Fragen bringt Sabine Hark in ihrem Versuch auf, "eine Ontologie der Gegenwart aus geschlechterkritischer Perspektive und in geschlechtertheoretischer Absicht" zu entwerfen. So scheint es zumindest auf den ersten Blick. Immerhin preist sie Kants kleine Schrift "Die Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung" als "ebenso exemplarische[n] wie epochale[n] Text". Tatsächlich interessiert sie sich jedoch gar nicht für ihn, sondern nur für Foucaults alles andere als unstrittige Interpretation. "Kant klärt die Frage nach dem Wesen der Aufklärung nicht in einer universalen und ahistorischen philosophischen Reflexion. Vielmehr sucht er in seiner Antwort nach dem Unterschied des Heute gegenüber dem Gestern", meint Hark mit Foucault. Zur Überprüfung ihrer Interpretation bietet sie den Lesenden allerdings nicht ein einziges Kant-Zitat. Man fühlt sich doch etwas an Vivian Atkinson erinnert, eine Figur aus Thomas Meineckes Roman "Tomboy", die sich fragt: "Wozu Freud lesen, wenn Butler ihn für uns gelesen hat?" Womit Hark allerdings keineswegs unterstellt werden soll, sie habe Kant nicht gelesen.

Dass es jedoch zu Ungenauigkeiten und Fehlern kommt, wenn sich jemand - wie Hark es in ihrem Beitrag tut - einem klassischen Text nur über den Umweg der Sekundärliteratur nähert, kann nicht überraschen. So wurde die Frage "Was ist Aufklärung?" zwar in der "Berlinischen Monatsschrift" gestellt, aber nicht von ihr, wie Hark meint. Auch wurde sie nicht von Kant aufgeworfen - wie Hark ebenfalls zu meinen scheint, immerhin spricht sie von "Kants Frage" - sondern von Johann Friedrich Zöllner. In einer Anmerkung zu seinem Artikel "Ist es rathsam, das Ehebündniß nicht ferner durch die Religion zu sanciren?" bemerkt er: "Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wol beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und noch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!" Zöllner Beitrag ist eine Reaktion auf einen "Vorschlag, die Geistlichen nicht mehr bei der Vollziehung der Ehen zu bemühen", den Johann Erich Biester zuvor unter Pseudonym ebenfalls in der "Berlinischen Monatsschrift" veröffentlicht hatte. Ganz typisch also für die Publikation, die sich als Diskussionsforum der Aufklärung verstand. Und so führte auch Zöllners Frage zu einer Diskussion, an der sich unter anderem Moses Mendelssohn mit dem Beitrag "Ueber die Frage: was heißt aufklären?" und eben auch Kant mit seiner "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung" beteiligten. Ein Entstehungsgeschichte, die für die Beurteilung von Foucaults - und somit Harks - Interpretation von Kants Text vielleicht nicht ganz unwichtig sein könnte.

Neben der Absenz von Kant-Zitaten deutet auf Harks Geringschätzung von Kants Antwort auf Zöllners Frage auch hin, dass sie im Literaturverzeichnis nur auf eine Internetseite verweist, auf der seine Aufklärungsschrift zu finden sei. Und das ganz ohne Not, sind doch in jeder universitären Bibliothek ohne weitere Anstrengung sowohl die Akademie-Ausgabe als auch diejenige von Wilhelm Weischedel sowie einige weitere zitierfähige Ausgaben zu finden.

Die Kritik an Harks Umgang mit Kant mag kleinlich erscheinen, und dies umso mehr als Kants Text, beziehungsweise seine Interpretation durch Foucault nicht einmal im Zentrum von Harks Beitrag stehen, doch steht ihr Umgang mit Kant geradezu beispielhaft für eine philologische Nachlässigkeit klassischen Quellentexten gegenüber, die immer mehr um sich zu greifen droht. Grund genug also, doch einmal mit dem Finger darauf zu zeigen.

Im Übrigen teilt Hark Lettows Ablehnung der (Kantischen) Frage nach dem Menschen: "Nach dem Wissen, dem Menschen, dem Geschlecht kann folglich nicht gefragt werden, sondern nur nach den diskursiven und sozialen Praktiken, nach den Macht- und Selbst-Technologien, die uns zu dem gemacht haben, 'was wir heute sind'." Daher könne auch "analytische Kapazität von Geschlecht" nur in "konkreten Kontexten" und in "Relation zu anderen Dimensionen sozio-kultureller Ordnung und Verhältnisbestimmungen" entfaltet werden. Geschlecht sei, so führt sie aus - und kann in diesem ja nicht unwesentlichen Punkt der ungeteilten Zustimmung des Rezensenten sicher sein -, keine "deskriptive Kategorie", sondern ein "konstituierender und evaluierender Begriff, der die Praktiken und Phänomene, die er zu beschreiben sucht, zugleich prägt und definiert".

Besonders lesenswert sind die Beiträge von Petra Schaper-Rinkel und Bettina Bock von Wülfingen. Unter dem Titel "Die neurowissenschaftliche Gouvernementalität" geht Schaper-Rinkel "Re-Konfigurationen von Geschlecht zwischen Formbarkeit, Abschaffung und Re-Essentialisierung" nach und legt die "transformierende Wirkweise der neuen Neurotechnologien" dar. Bock von Wülfingen betreibt in ihrem Aufsatz "Liebe und Gesundheit in der Genetisierung der Zeugung" Diskursanalyse als Untersuchung der "Transformation von Denkräumen". Untersuchungsgegenstand ist die Verschiebung von Hierarchien und gesellschaftlichen Normierungen im Zuge der Transformation. Dabei fokussiert die Autorin insbesondere auf die Verschiebung von der "'Schwangerschaft zum Abschalten' (der männliche und weibliche Körper wurde bisher als generell heterosexuell befruchtungsfähig gesehen und war mit Verhütungspräparaten daran zu hindern) hin zur 'Schwangerschaft zum Anschalten' (der Körper jedes Geschlechts wird nun als generell infertil beziehungsweise asexuell konzipiert und wird im Falle eines Reproduktionswunsches in den Ausnahmezustand der Fertilität versetzt)."

Nicht weniger erhellend ist der kluge Aufsatz von Heike Kahlert zu "Stabilität und Wandel der Geschlechterdifferenz im Zuge des Geburtenrückgangs". Ihr zufolge beruht die "emotional hoch aufgeladene Rede" über die "schrumpfende Gesellschaft" auf einer "Allianz von Demographie und Ökonomie", die einen Generativitätsdiskurs angestoßen habe, der Dreierlei miteinander verbinde: die "Verfestigung der 'natürlichen' Geschlechterdifferenz in Verbindung mit der Heterosexualität", die "Intensivierung der Wissens- und Machtstrukturen, die die 'natürliche' Geschlechterdifferenz auch in ihren sozialen Konnotationen affimieren", und die "(Neu-)Verhandlung der sozialen Geschlechterdifferenz sowie geschlechterpolitischer Strategien und Instrumente". Dies bewirke, dass neben der "diskursiven Re-Produktion des Bestehenden" zugleich eine "diskursive Dynamisierung der Geschlechterdifferenz" stattfinde. Wie die Autorin weiter zeigt, ist der "Geschlechterkonservativismus" nicht im Stande, "die soziale Erzeugung und Funktion der 'natürlichen' Geschlechterdifferenz" zu antizipieren. Daher erklärt er wie schon vor 100 Jahren "als natürlich und evolutionär bestimmt, was längst in aufgeklärten Kreisen als vergesellschaftet entlarvt ist".

Sehr zurecht weist die Kahlert darauf hin, dass sich in dem von der politischen Klasse gegenwärtig gehegten "familienpolitische[n] Interesse an der Förderung des Zwei-Verdiener-Modells in (bildungs-)bürgerlichen Kreisen" nicht etwa ein unerwartetes "Interesse an der Emanzipation von Frauen oder an der Förderung moderner Geschlechterkonstruktionen" bahnbricht, sondern ihm ein "Interesse am Kind und zwar möglichst am Kind aus gut gebildetem Elternhaus" zugrunde liegt.

Außerdem macht Kahlert darauf aufmerksam, dass bislang keine demographischen Daten zu Zeugungsraten vorliegen. "Fruchtbarkeit und Generativität" würden als "Messkategorien für den männlichen Körper" offenbar nicht in Betracht gezogen. Ihre Vermutung, dies liege daran, dass die biologische Vaterschaft "nur mit erheblichem wissenschaftlichen Aufwand eindeutig festgestellt" werden könne, überzeugt allerdings nicht. Denn für eine aussagekräftige Statistik etwa darüber, wie viele Kinder pro Mann geboren werden, ist es völlig unerheblich, wer genau der Vater eines bestimmten Kindes ist. Viel plausibler wäre die Annahme einer kulturell bedingten sexistischen Voreingenommenheit, der zufolge Kinder eben Frauensache sind.

Anders als die anderen Autorinnen wenden sich Karin Esders und Corinna Genschel in einem der ersten Beiträge nicht primär Fragen der Forschung zu, sondern mehr noch der Lehre. Um transdisziplinäre Lehr- und Forschungsansätze "in herrschaftskritischer Absicht" produktiv werden zu lassen, sei es notwendig, das Potenzial der Frauen- und Geschlechterforschung den veränderten universitären Bedingungen anzupassen. Denn nur so seien "geeignete Werkzeuge zur Analyse der Logik von aktuellen Machtbeziehungen und -kämpfen herauszubilden".