Ein Adler unter Truthähnen

In seiner grandiosen Biografie "A Patriot for us" enträtselt John Heilpern die Irrungen und Wirrungen im Leben und Werk des enigmatischen englischen Dramatikers John Osborne

Von Peter MünderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Münder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer (wie der Rezensent) im Juni 1992 John Osbornes Stück "Dejavu" im Londoner Comedy Theatre sah, rieb sich damals verwundert die Augen. Mit diesem einfallslosen dreistündigen Recycling-Versuch seines berühmten Welterfolgs "Look Back in Anger" von 1956 wollte sich der inzwischen 63-Jährige nach längeren Pausen wieder auf den englischen Bühnen als Dramatiker in Erinnerung bringen? Der "Angry Young Man" Jimmy Porter, der damals in der aufsehenerregenden Inszenierung von Tony Richardson am Royal Court Theatre vehement gegen ein verstaubtes Establishment polemisierte und die Briten als lethargische Lemminge verhöhnt hatte, nörgelte nun als gealterter saturierter Bourgeois in plumper Stammtischmanier über den Untergang des Abendlandes.

Besondere Störfaktoren, die zu dieser diffusen "Sic transit gloria mundi"-Stimmung beitrugen, waren vor allem die diktatorische Brüsseler Bürokratenmafia, Shopping Malls, die nach Winnie Mandela benannt waren und angepasste Lehrer, die sich bei Teenies anbiedern, indem sie im Unterricht lieber Elton John-Songs statt der Lyrik von T.S.Eliot sezieren. JP stritt sich immer noch mit seinem Freund Cliff und stichelte gegen die wieder am Bügelbrett hantierende Alison. Dies war allerdings nicht mehr Porters Upper-Class-Ehefrau, sondern seine Tochter. In diesem "Look Back, Part Two" passierte eigentlich gar nichts, das jedoch im Schneckentempo. Kein Wunder, dass Osborne zwei Jahre lang vergeblich versucht hatte, das Stück bei einem Theater unterzubringen. Mit dem Schauspieler Peter O'Toole, der Jimmy Porter nur in einer gekürzten Version spielen wollte, hatte er sich total überworfen, denn der sture Osborne hatte sich noch nie auf irgendwelche Kürzungen oder Änderungen eingelassen. Drei Stunden "Dejavu" hielt er für absolut angemessen. Wie er ja auch die kitschige Bär-und Eichhörnchen-Kuschelszene mit Jimmy Porter und Alison am Ende von "Look Back in Anger" für nicht verhandelbar hielt und sich weigerte, diese kindische Regressions-Rhetorik für lukrative Londoner Westend-Inszenierungen herausstreichen. Sein eigenes dramatisches Werk hielt dieser sonst alles in Frage stellende Zweifler für schlichtweg unantastbar.

Während er als Dramatiker zu dieser Zeit seinen kreativen Zenith längst überschritten hatte, sorgte Osborne als polemisierender "Spectator"-Kolumnist und Verfasser einer zweibändigen Autobiografie ("A Better Class of Person", 1981 und "Almost a Gentleman", 1991) immer noch für brisante Kontroversen. In den "Spectator"-Glossen beschimpfte er seine Mutter selbst noch nach ihrem Tod, er verunglimpfte seine vierte Ehefrau, die Schauspielerin Jill Bennett nach ihrem Selbstmord, drohte unliebsamen Kritikern Prügel an und verhöhnte Peter Hall, den berühmten Leiter des National Theatre, als eitlen " Fu Manchu", weil der Osbornes Stück "Watch it come down" 1976 nach unbefriedigender Publikumsresonanz abgesetzt hatte. Seine alkoholischen Exzesse, die peinlichen öffentlichen Auftritte mit seinen Ehefrauen, die wie mißratene Imitationen eines gnadenlosen Strindberg-Duells wirkten, all diese Skandälchen hatten im Lauf der Jahre immer wieder reichlich Stoff für die Klatschspalten geliefert.

Was war nur aus diesem einst so strahlenden Star, dem ehemaligen Publikums- und Medienliebling geworden, der das englische Theater revolutioniert hatte? Über dessen "Blick zurück im Zorn" der Starkritiker Kenneth Tynan geschrieben hatte: "Ich könnte niemanden lieben, der dieses Stück nicht sehen will"? Wie kann man diesem einmaligen, unberechenbaren Phänomen John Osborne (1929-1994) in einer Biografie überhaupt gerecht werden?

Der Engländer John Heilpern, Oxford-Absolvent und ehemaliger Dramaturg am National Theatre, dann "Observer"- Redakteur und "Times"-Kolumnist, wurde von Helen Osborne für das Schreiben einer autorisierten Biografie ausgewählt - einen besseren Autor hätte sie tatsächlich nicht finden können. Heilpern arbeitet jetzt als Theaterkritiker des "New York Observer" in New York, wo er außerdem an der Columbia University Theaterwissenschaft lehrt. Er wurde für seine Porträts berühmter Schauspieler ausgezeichnet und für sein Buch mit gesammelten Broadway-Kritiken "How good is David Mamet anyway?" ganz zu Recht hoch gelobt. Heilpern ist nicht nur brillant, eloquent und bestens mit dem englischen Theater vertraut, er ist vor allem ein verbissen recherchierender Materialiensammler. Chauffeure, Schauspieler, Ärzte, Kritiker, Dramatiker, Regisseure, Nachbarn, Sekretärinnen, Finanzmanager, Kneipenwirte, Freunde und Feinde des Dramatikers, darunter auch Osbornes erste Ehefrau Pamela Lane und die von ihm verstoßene Tochter Nolan hat Heilpern für diese faszinierende Biografie befragt. Ihm ist das Kunststück gelungen, völlig neue biografische Aspekte, vor allem aber auch erfrischend originelle Einsichten in bisher unbekannte Stücke Osbornes zu entwickeln.

Wer kannte bisher schon "West of Suez", die Soft-Porno-Komödie "A Sense of Detachment" oder "The Blood of the Bambergs", wer wusste, unter welchen Umständen der junge Provinzschauspieler Osborne ("eigene Bühnengarderobe inklusive Smoking ist mitzubringen") vor seiner Karriere als Dramatiker arbeiten musste? Kaum bekannt ist auch, dass Osborne vor "Look Back" bereits vier andere Stücke geschrieben hatte - meistens während der Vorstellungen hinter den Kulissen, weil ihm seine kleinen Nebenrollen so viel Zeit zum Schreiben ließen. Mit Harold Pinter verbindet ihn diese praktische Schauspiel-Erfahrung beim Tournee-Theater, die ihm als Dramatiker dann zugute kam. Wie Pinter fabrizierte Osborne auch Drehbücher ("Tom Jones", "The Charge of the Light Brigade"), doch dem Hedonisten Osborne fehlte Pinters eiserne Disziplin, was immer wieder zu Konflikten mit seinen Auftraggebern führte, weil Osborne langfristig zugesagte Projekte einfach nicht realisieren konnte oder wollte.

Auf das fast schon reflexhafte Bestätigen lieb gewordener Klischees über John Osborne, das in den letzten Jahren bei vielen Kritikern populär geworden ist, lässt sich Heilpern nicht ein. Waren die meisten Kritiker nicht zu dem Schluss gekommen, "Look Back" sei antiquiert, hechele dem Zeitgeist hinterher oder sei lediglich eine marginale Fußnote der englischen Theatergeschichte? War es unter diesen Osborne-Revisionisten nicht üblich geworden, seine erfolgreichsten Stücke "Look Back" und "The Entertainer" als kurz aufflackernde Strohfeuer zu bezeichnen? Dementsprechend herablassend behandelte man dann "Time Present", "The Hotel in Amsterdam", und Osbornes vielleicht bestes Stück "Inadmissable Evidence", in dem er sich selbstkritisch mit eigenen Schwächen und Eitelkeiten auseinandersetzt. Ist "A Patriot for Me", 1966 noch eins der skandalträchtigsten und kontroversesten Stücke, das wegen seiner drastischen Darstellung schwuler Militär-Cliquen aus der Wiener k.u.k.-Epoche zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Zensur führte, inzwischen wirklich so antiquiert? Schon dieses kritische Sittengemälde, das die umstrittene Spionage-Affäre um den wegen Geheimnisverrat verurteilten Oberst Redl aufarbeitet, sollte ausreichen, all die Kritiker zu widerlegen, die leichtfertig über Osbornes ach so unpolitische Stücke schwadronieren oder sich darüber mokieren, dass er Brechts Konzept des epischen Theaters offenbar nie richtig verstanden habe.

Über "Luther" wurde zuletzt ohnehin nur im Fachjargon von Internisten gelästert - ganz so, als handele es sich bei Osbornes bodenständigem revolutionären Reformer um einen Halbirren, der vor allem an Darmverschlingung oder an chronischer Verstopfung leidet. Auch Fintan O'Toole, Kritiker der "Irish Times", schließt sich diesen revisionistischen Bedenkenträgern an und tischt in seiner ausführlichen Rezension der Heilpern-Biografie (im "New York Review of Books", 10. Mai 2007) diese bekannten Einwände auf. Osborne wirft er vor, sich in "Look Back" zwar über ein saturiertes politisches Establishment zu entrüsten, die damaligen aktuellen politischen Konflikte jedoch ignoriert zu haben: "Nasser verstaatlichte den Suezkanal, der Ungarn-Aufstand brach aus, Castro begann die Invasion auf Kuba... aber Osborne war immer nur an sich selbst interessiert, seine Perspektive war schon immer eng".

Ein grotesker Vorwurf, da Osborne das am 8. Mai 1956 uraufgeführte "Look Back" bereits 1955 geschrieben hatte und den Ungarn-Aufstand sowie andere Konflikte der zweiten Jahreshälfte von 1956 schlecht vorhersehen konnte. Kein Wunder also, dass der auf Osbornes mangelnde political correctness fixierte O'Toole in seiner vernichtenden Kritik zu dem Schluss gelangt: "Osborne war immer ein Reaktionär und behandelte als einziges Thema immer nur sich selbst. Er war der wichtigste ,Minor Playwright' in der Geschichte des englischen Theaters".

John Heilpern gelingt es in seiner Biografie souverän, diese Klischees und Vorurteile zu konterkarieren. Der Egomane Osborne wird keineswegs idealisiert, aber Heilpern zeigt auch den ungeheuren Leidensdruck eines depressiven Außenseiters, der die Trauerarbeit über den früh verstorbenen Vater nur fragmentarisch bewältigte und darunter Zeit seines Lebens litt. Offenbar kultivierte der Dramatiker auch seine ins Paranoide driftenden Hasslieben. Wie sonst ist zu erklären, dass auf seiner "Hate List" die Namen all der Freunde und Förderer (Peter Hall, Alan Bates, Royal Court Theatre und andere) verzeichnet waren, die ihn jahrelang hingebungsvoll unterstützt und gefördert hatten?

Bei der Suche nach unbekannten Details sind Heilpern einerseits seine glänzenden Kontakte zur Londoner Theaterwelt hilfreich gewesen. Entscheidend waren allerdings die von Helen Osborne zur Verfügung gestellten, bisher unbekannten Notizbücher des Dramatikers, die der Biograf auswerten konnte.

"Was ist bisher über Osborne unbekannt geblieben?" war seine erste Frage an Helen Osborne, die fünfte und letzte Ehefrau Osbornes, als diese ihn nach dem Tod ihres Mannes beauftragte, eine autorisierte Biografie zu schreiben. Da ist Heilpern zu Besuch auf "The Hurst", dem noblen Landsitz in Shropshire, auf den sich der vom Londoner Trubel angewiderte Osborne zurückgezogen hatte. Heilpern sitzt mit der Witwe, einer früheren "Observer"-Redakteurin, im Salon und blickt auf eine herrliche Park-Szenerie. Er wird flankiert von antiken Möbeln, dem Oscar für das "Tom Jones"-Drehbuch, seltenen Gemälden sowie Bühnenphotos und ist umgeben von mehreren Kissen, die alle mit kuriosen Motti bestickt sind. "It's difficult to soar like an Eagle when you are surrounded by Turkeys" lautet einer dieser hübschen Sprüche. Indeed: Wie soll der geniale Adler zum majestätischen Flug ansetzen, wenn er von tumben Truthähnen umgeben ist? Wie gelang Osborne der erfolgreiche Höhenflug in die Künstler-Stratosphäre? Und wie kam es dann zum finanziellen und kreativen Absturz, zu lähmenden Depressionen und einer langanhaltenden Schreibblockade? War Osborne lernresistent, wenn es darum ging, normale Beziehungen zu Frauen aufzunehmen? Er war fünfmal verheiratet, hatte unzählige Affären und war etlichen Frauen in einer Strindberg'schen Hassliebe verbunden. Er riet zwar allen Freunden: "Heirate nie eine Schauspielerin!" Doch die drei Ehefrauen Pamela Lane, Mary Ure und Jill Bennett waren Schauspielerinnen, die anderen beiden (Penelope Gilliat und Helen Dawson) waren Kultur-Redakteurinnen gewesen.

John Heilpern beschreibt die selbstzerstörerischen Beziehungsprobleme des Dramatikers auch deswegen so ausführlich, weil viele dieser Konflikte, vor allem die aus der frühen Phase des "Künstlers als junger Mann", ziemlich realistisch in den Stücken beschrieben werden. Die "Look Back"-Dreierkonstellation von Jimmy Porter, Ehefrau Alison und dem Freund Cliff entspricht genau der Situation, in der Osborne als verarmter Schauspieler mit dem Freund Anthony Creighton und der ersten Ehefrau, der talentierten Schauspielkollegin Pamela Lane, lebte. Die Eltern der damals 21 Jahre alten Pamela Lane wollten die Ehe mit Osborne mit allen Mitteln verhindern und heuerten sogar einen Privatdetektiv an, der Beweise für die vermeintliche Homosexualität des mittelosen jungen Mimen beschaffen sollte. Osborne trat damals gern in der Pose des schwulen Parvenü auf - wahrscheinlich wollte er sich als dekadenter Bürgerschreck in Szene setzen. Jimmy Porters Hass auf die Schwiegereltern entsprach tatsächlich Osbornes eigenem Hass auf seine bourgeoisen Schwiegereltern. Osborne setzte die Ehe zwar gegen alle Widerstände durch, doch das junge Paar hatte sich bald entfremdet, weil die beiden Schauspieler nur selten Engagements in denselben Ensembles oder am selben Ort hatten. Offenbar konnte Osborne es als weniger begnadeter Schauspieler auch nicht ertragen, im Schatten der wesentlich talentierteren Ehefrau zu stehen. Als Pamela Lane eine Affäre mit einem Zahnarzt anfing, war Osborne so verbittert und wütend, dass er sie auf den Boden warf und der asthmakranken Frau Zigarettenrauch solange in den Mund blies, bis sie, befürchtend, diese Attacke nicht zu überleben ohnmächtig wurde.

Osborne hat mit Jimmy Porter ein alter Ego geschaffen, das zwischen Selbstmitleid und einem abgrundtiefen Hass auf selbstgefällige, emotionslose Spießbürger pendelt. Diese labile Gemütsverfassung, das demonstriert Heilpern mit vielen schlüssigen biografischen Details, entsprach Osbornes eigener Befindlichkeit.

In seinem "Hamlet"-Textbuch, das er immer bei sich trug, hatte Osborne nur die Monologe des Dänenprinzen stehen lassen - alle anderen Passagen waren gestrichen. Offenbar sah er sich dazu berufen, die aus den Fugen geratene Zeit auch als solche zu beschreiben - wenn er die Verhältnisse schon nicht selbst ins rechte Lot bringen konnte.

Die Story vom arbeitslosen Gelegenheitsschauspieler, der mit seinem Kumpel Anthony Creighton auf einem Londoner Hausboot lebt und beflissen seine Manuskripte an Theater und Regisseure schickt, mit fassungsloser Irritation die prompten Absagen oder Schmähungen erträgt, bis ihn plötzlich der Theaterleiter George Devine entdeckt und "Look Back" zum überraschenden Welterfolg verhilft, erzählt Heilpern mit einer begeisternden Detailfreude, die ein bezeichnendes Licht auf die damalige Stimmung an englischen Theatern wirft. Der ebenfalls an der Themse wohnende Devine war nämlich nur deswegen mit einem Kahn zu Osbornes Hausboot hinübergerudert, weil er sich davon überzeugen wollte, ob es sich beim jungen Dramatiker, von dessen zugeschicktem Manuskript er so begeistert war, tatsächlich um einen Engländer handelte. Schließlich würde ja kein Brite, so suggerierte ihm Regisseur Tony Richardson, so wüst und aggressiv gegen die Kirche, das Establishment und die Ehe polemisieren! Devine war jedenfalls begeistert, dass der Angry Young Man, den er bei dieser Visite als abgebrannten vegetarischen Schreiber erlebte, tatsächlich Engländer war, und schloss sofort Freundschaft mit dem vielversprechenden Talent. Osborne selbst betonte übrigens immer wieder, mit den zwei größten Gottesgaben gesegnet zu sein: "Ich bin als Engländer geboren und heterosexuell".

Nach der legendären "Look Back"-Premiere folgten weitere Erfolgsstationen: Die "Look Back"-Verfilmung mit Richard Burton, der gigantische "Entertainer"-Hit mit Laurence Olivier, danach der Oscar für das "Tom Jones"-Drehbuch: Die Osborne-Success-Story schien kein Ende zu nehmen. Der Champagner floß in Strömen, die Trips an den Broadway, wo seine ersten Stücke noch triumphal gefeiert wurden, nahmen kein Ende und der staunende Kenneth Tynan berichtete akribisch über die Unsummen, die Osborne damals verdiente. Der "Angry Young Man" war zum erfolgreichen Markenzeichen geworden; kein Wunder, dass Osborne als Nummernschild "AYM 1" für seinen Alvis-Sportwagen wählte. Das AYM-Label war übrigens vom Royal Court-Pressereferenten erfunden worden - dem missfiel Osbornes Stück so sehr, dass er den jungen Stückeschreiber fragte: "I suppose you're really an angry young man?"

Schon in dieser euphorischen Anfangsphase gab es jedoch Konflikte, Exzesse und Turbulenzen, die auf Osbornes labile Grundverfassung, eine autoritäre psychische Struktur und auf sein permanentes Misstrauen hinwiesen. Heilpern kommt der labilen Zerrissenheit und beinah schizophrenen Attitüde Osbornes auf die Spur, weil er sich nach ausführlichen Gesprächen mit ehemaligen Weggefährten Osbornes zurückversetzen kann in die demütigende Lage des asthmakranken, pickeligen und vorübergehend an den Rollstuhl gefesselten Jungen, der von der Mutter öffentlich verhöhnt wird ("Er ist ein totaler Schwächling und Bettnässer!") und den an TB erkrankten geliebten Vater Thomas Godfrey, der nur 39 Jahre alt wurde, früh verliert. Osbornes hypersensible Reaktion auf jede Form der Kritik führt Heilpern auf diese erniedrigenden Erfahrungen zurück. Er zeigt aber auch den großzügigen, liebenswerten Künstler, der seine Freunde und Mitarbeiter bis zum Exzess verwöhnen konnte. Osbornes schon früh entwickeltes Faible für Provokationen stellt Heilpern als eine Art Selbstschutz dar. Wenn der Dramatiker sich etwa damit brüstete, der einzige Stückeschreiber zu sein, der nach einer misslungenen Premiere von empörten Zuschauern aus dem Theater gejagt und durch Londons Straßen gehetzt wurde, dann soll das signalisieren: "Seht her, wie geschickt ich das Publikum polarisieren kann - ich bin immer für eine kleine Sensation gut!"

An die Außenseiterposition hatte sich Osborne offenbar schon früh gewöhnt. Nachdem er als 15-Jähriger den Direktor des Belmont College verprügelt hatte und von der Schule flog, schlug er sich als Texter beim Firmenmagazin "Gas World" durch, wo er die Leser über die Segnungen moderner Gasheizungen informierte. Heilpern hat Osbornes damaligen "Gas World"-Chef in Kanada aufgespürt und eruiert, dass der anhängliche Osborne den Kontakt zu ihm über Jahrzehnte aufrecht erhielt. Für Osborne war der fürsorgliche Chefredakteur der erste Ersatzvater.

Mit dem Vater Thomas Godrey hatte er oft Music-Hall-Aufführungen besucht, die für den Jungen anrührende und euphorische Erlebnisse darstellten. Im "Entertainer" ist der nostalgische Reiz dieser sentimentalen, heilen Kitschwelt trotz der mitunter drastisch persiflierten Sketche unverkennbar. Seine Liebe zum Theater entdeckte Osborne dann in der Tanzschule: Die umgängliche Leiterin hielt Osborne für einen talentierten Schauspieler und ermunterte ihn, die Bühnenlaufbahn einzuschlagen. Laut Heilpern war Osborne jedoch nur ein drittklassiger Mime.

Osbornes starke emotionale Bindung an den früh verstorbenen Vater hält Heilpern für den entscheidenden Schlüssel zum Verständnis dieses enigmatischen Künstlers. In "Look Back" verweist eine beinah larmoyante Passage auf den Schock, den der junge Jimmy Porter erleidet, als er seinen schwerkranken Vater bis zu dessen Tod trösten und versorgen musste: "Als Zehnjähriger erlebte ich ein Jahr lang, wie das Leben meines Vaters zu Ende ging ... ich lernte schon früh, was es hieß, zornig zu sein - zornig und hilflos. Und das kann ich nie vergessen".

Der zehnjährige Osborne, der seinen Vater unter ähnlichen Umständen verlor, warf seiner ungeliebten Mutter später vor, sich zu wenig um den kranken Vater gekümmert zu haben. Ist es also ein Wunder, meint Heilpern, wenn Osborne sich auf die Suche nach einem Vaterersatz begab und seine besten Freunde zu Vaterfiguren stilisierte? Sein Entdecker George Devine, der "Look Back" im Royal Court Theatre zur Aufführung brachte und den jungen Dramatiker zielstrebig über Jahre förderte, war für ihn eine solche mit großer Hingabe verehrte Figur. Als Devine 1965 starb, verfiel Osborne in lang anhaltende Depressionen, die er mit alkoholischen Exzessen kompensieren wollte, was seine Lage jedoch nur noch verschlimmerte.

Die mit großem Einfühlungsvermögen beschriebenen biografischen Episoden stülpt Heilpern dem Werk Osbornes weder als simple Erklärungsmuster über, noch versucht sich der Autor als Küchenpsychologe, um etwa mit scheuklappenhaftem hermeneutischem Tunnelblick Lieblings-Leitmotive wie Vaterbindung, Mutterhass, Minderwertigkeitskomplex im Künstlerleben zu diagnostizieren und diese dann etwa als Manifestationen autonomer Sublimierungsprozesse in den Stücken wieder zu erkennen. Trotzdem wird ersichtlich, dass sich Jimmy Porters Hass und die selbstzerstörerischen Aktivitäten eines Protagonisten wie Bill Maitland ("Inadmissable Evidence") aus diesen lange ertragenen Kränkungen Osbornes nährt.

In einem frühen Notizbucheintrag hatte John Osborne den Zorn übrigens als fast ebenso natürliches Phänomen wie die Rotation der Sonne verstanden: "What's he angry about? Why does the sun turn?" "Forever Angry" war offenbar das dominierende Leitmotiv John Osbornes. Mit seiner grandiosen Biografie vermittelt uns John Heilpern endlich einen ebenso einfühlsamen wie plausiblen Zugang zum Werk und Leben dieses umstrittenen Neo-Klassikers.


Titelbild

John Heilpern: John Osborne. A patriot for us.
Vintage Books, London 2007.
528 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9780099275862

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